Santiago_
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Überflüssiges Bittgebet? Oder: Weiß Gott nicht selber, was gut für uns ist?

Das Problem: Das, worum jemand bittet, ist entweder gut oder schlecht – für ihn selbst, für seine Mitmenschen oder für die Welt im Allgemeinen. Wenn es gut ist, dann wird es ein guter und weiser Gott ohnehin tun, egal ob ihn jemand darum bittet oder nicht. Und umgekehrt: wenn es schlecht ist, dann wird Gott es nicht tun – ebenfalls unabhängig von unseren Gebeten. Weder im einen noch im anderen Fall wird das Gebet daran etwas ändern. Es mag vielleicht sinnvoll sein, Gott zu loben und ihn anzubeten, aber ihn um etwas zu bitten ist einfach Unsinn.

Die Antwort: Ein Blick in die Bibel

Die einfachste Antwort ist der Verweis auf das Evangelium. Jesus selber trägt uns auf, zu bitten, z.B. um unser tägliches Brot (Mt 6,11). Und ganz allgemein fordert er: »Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet. Denn wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet« (Mt 7,7-8; Lk 11,9-10). Ein recht seltsamer Rat, wenn das Bittgebet grundsätzlich sinnlos wäre.

Der biblische Befund ist also klar. Aber gibt es auch eine vernünftige Erklärung, warum wir Gott um etwas bitten sollen, obwohl er doch selber schon immer weiß, was gut für uns ist?

Warum überhaupt etwas tun?

Zuerst sollte uns klar sein, dass der Einwand »Beten ist überflüssig, weil Gott ja immer schon alles weiß« nicht nur ein Argument gegen das Bittgebet wäre, sondern überhaupt gegen jede Art von Handeln. Auch beim Arbeiten, Essen, Trinken, Taten der Nächstenliebe usw. versuchen wir – ganz ähnlich wie beim Bittgebet – etwas Bestimmtes zu bewirken. Und das Ergebnis ist entweder gut oder schlecht. Man könnte hier den gleichen Einwand vorbringen wie beim Beten: Wenn das Gewünschte gut ist, dann wird es ein guter Gott auch ohne unser Zutun herbeiführen; wenn es schlecht ist, wird er es auch ohne uns verhindern. Wozu sich regelmäßig waschen? Wenn Gott will, dass wir sauber bleiben, dann sollte er das schaffen auch ohne dass wir uns unter die Dusche stellen. Will er es nicht, dann werden wir schmutzig bleiben, egal wie viel Seife wir verschwenden. Wozu sich die Schuhe anziehen? Wozu irgendetwas lernen? Wozu überhaupt noch etwas tun? Thomas von Aquin bringt es auf den Punkt: »Wollte man wegen der Wandellosigkeit der Vorsehung Gottes behaupten, wir sollten nicht beten, um etwas von Gott zu erlangen, so ist das ähnlich töricht wie die Meinung, man solle nicht gehen, um an einen bestimmten Ort zu gelangen, oder nicht essen, um sich zu stärken« (Summa contra Gentiles III, 96).

Gott lässt uns »mitspielen«

Niemand zweifelt auch nur einen Augenblick daran, dass wir bestimmte Dinge tun können und dass diese unsere Handlungen wirkliche Folgen haben. Ganz unabhängig vom Problem des Gebetes: Gott hat offenbar beschlossen, die Geschichte der Menschheit nicht vollständig alleine zu schreiben und durchzuführen. Zwar ist das meiste von dem, was sich im Universum abspielt, unserem Einfluss entzogen, aber eben nicht alles. Und in diesem Bereich können wir wirken. Es ist wie bei einem Theaterstück, in dem der Autor den Schauplatz und die großen Linien der Handlung festgelegt hat, die kleinen Details aber der Improvisation der Darsteller überlässt. Es mag uns ein Rätsel sein, warum Gott uns überhaupt erlaubt, die Wirklichkeit mitzugestalten. Aber ganz offensichtlich hat er uns diese Möglichkeit gegeben. Und dass er uns daran auch mittels Gebet mitwirken lässt, sollte uns eigentlich kein bisschen mehr verwundern, als dass wir es auf irgendeine andere Art tun dürfen.

Arbeit und Gebet

Gott gab uns kleinen Geschöpfen die Würde, auf zwei verschiedene Arten etwas zum Lauf der Dinge beizutragen: Er hat die Materie des Universums so geschaffen, dass wir innerhalb bestimmter Grenzen unmittelbar auf sie einwirken können; darum können wir uns die Hände waschen, unseren Mitmenschen helfen – oder sie umbringen. Ganz ähnlich hat er auch einen bestimmten Freiraum gelassen, den wir nur durch unsere Gebete verändern können. Wenn es also dumm oder überflüssig sein sollte, für die Gesundheit eines Mitmenschen zu beten (weil Gott ja sicher am besten weiß, ob die Gesundheit für ihn jetzt gerade gut ist und sie ihm dann auch schenken würde), dann müsste es genauso dumm und überflüssig sein, einen Regenmantel anzuziehen. Weiß Gott nicht am besten, ob wir nass werden oder trocken bleiben sollen?

Die zwei Methoden, durch die wir in der Welt wirken können, heißen Arbeit und Gebet. Beide haben etwas gemeinsam: Beide Male versuchen wir, einen Zustand herbeizuführen, den Gott zwar auch alleine hätte herbeiführen können (sogar besser als wir). Aber offensichtlich wollte er es nicht »alleine« machen, sondern hat es so eingerichtet, dass wir als seine Geschöpfe daran mitwirken können – sei es durch eigene Arbeit, sei es durch Gebet. Aus dieser Perspektive sehen wir, dass das, was wir tun, wenn wir den Garten jäten oder auf eine Schulaufgabe lernen, gar nicht so viel anders ist als das, wenn wir um eine gute Ernte oder eine erfolgreiche Prüfung beten.

[Von hier aus erschließt sich auch erst die eigentliche Bedeutung des benediktinischen Grundsatzes Ora et labora (»Bete und arbeite«): Der hl. Benedikt wollte damit nicht in erster Linie seinen Mönchen etwas »Abwechslung« in den Klosteralltag bringen. Er hat einfach beide Dimensionen berücksichtigt, in welchen der Mensch wirken kann: Gebet und Arbeit.]

Unheilvolle Gebete…

Aber einen wichtigen Unterschied gibt es doch: Egal wie viel wir beten, wir können nicht wissen, ob die Ernte gut ausfallen wird oder ob wir die Prüfung bestehen. Dagegen wissen wir, dass das Unkraut, das wir auf dem Feld ausgerissen haben, nicht mehr da ist; und dass wir zumindest das eine Englischwort, das wir gelernt haben, in der Schulaufgabe (voraussichtlich) noch wissen. Die Ergebnisse unseres Handelns sind irgendwie unmittelbarer als die Wirkungen unserer Gebete. Wir wissen, dass wir unsere Gesundheit ruinieren, wenn wir zuviel essen und trinken; dass sich mein Banknachbar freut, wenn ich ihm etwas von meiner Schokolade abgebe, und dass er ins Krankenhaus kommt, wenn ich ihm im Treppenhaus ein Bein stelle. Die Konsequenzen, die wir durch unser Handeln (»Arbeit«) verursachen, sind sozusagen ein für allemal von Gott »garantiert« und darum unausweichlich und vorhersehbar. Wir haben die Freiheit, uns und unseren Mitmenschen durch unser Handeln soviel Schaden zuzufügen, wie wir wollen. Die Konsequenzen, die wir durch unser Beten auslösen, sind anders: Hier hat Gott sich das letzte Wort vorbehalten. Hätte er es nicht getan – d.h. würde unser Gebet genauso »unfehlbar« wirken wie unsere Taten – dann wäre das Gebet die gefährlichste aller Tätigkeiten von uns Menschen. Wir wären in der entsetzlichen Lage, die der alte Römer Juvenal beschworen hat: »Unheilvolle Gebete, die der Himmel in seinem Zorn erhört« (Juvenal, Satiren IV, 10, 111).

Gebet: unsere machtvollste Tätigkeit

Gebete werden also nicht immer im unmittelbaren, vordergründigen Sinn des Wortes »erhört«. Jedoch nicht, weil das Gebet die schwächere Art der Verursachung wäre, sondern umgekehrt: weil es die stärkere ist. Denn anders als bei unseren Handlungen, sind seine Auswirkungen nicht auf das Hier und Jetzt beschränkt. Mit dem Gebet können wir (a) an allen Orten der Welt eingreifen, und das (b) nicht nur in der Gegenwart, sondern genauso in der Zukunft, und (c) wir können Dinge erbitten (d.h. bewirken), die weit über unserer menschlichen Kraft liegen würden (z.B. die Bekehrung eines guten Freundes). Dieses dreifach »erweiterte Wirkungsfeld« des Bittgebetes ist der Grund, warum sich Gott die letzte Entscheidung vorbehalten hat, ob er es erhört oder nicht. Ohne diese Einschränkung wäre das Gebet unser Verderben. Es ist ja nicht einfach pure Willkür, wenn ein Schulleiter sagt: Dieses und jenes ist euch laut Schulordnung freigestellt. Ihr könnt es tun, ohne weiter zu fragen. Aber das und das ist einfach zu gefährlich; das lässt sich nicht mit einer allgemeinen Vorschrift regeln. Wenn ihr etwas davon tun wollt, dann müsst ihr mit eurem Anliegen schon in mein Büro kommen und die Sache mit mir besprechen. Und dann werden wir sehen.

Wenn unsere Gebete manchmal nicht erhört werden, dann nicht deswegen, weil sie unwirksam wären oder weil man sie im Himmel nicht gehört hätte. Gott hört jedes Gebet. Aber er weiß auch, dass wir manchmal um Dinge bitten, die wir zwar selber für gut halten, die aber in Wirklichkeit schlecht wären, für uns oder für andere. Und in solchen Fällen hört und erhört Gott unser Gebet gerade dadurch, dass er uns anscheinend nicht erhört¸ dass wir nicht das erhalten, um was wir gebeten haben, sondern indem er uns gibt, was in Wirklichkeit gut für uns ist. Treffend erklärt der hl. Augustinus über diese Beter: »Zu seinem Heil wurde erhört, der nicht erhört wurde nach seinem Willen« (Kom. zu 1Joh 6,6).

Anm. Dieser KIK hält sich weitgehend (zum Teil wörtlich!) an den Aufsatz von C.S. Lewis, »Beten und Arbeiten«, in Gültiges und Endgültiges. Essays zu zeitgemäßen und unzeitgemäßen Fragen, Brunnen-Verlag, Basel 1992, 26-29.

Quelle: sjm-congregation.org/htdocs/downloads_kik.html
Santiago_
Nun, dass wir keine "Ursachen neben Gott" sind habe weder ich noch der Artikel behauptet. Lesen sie mal die Regensburger Rede, dann werden sie sehen, von welcher Art Luthers Voluntarismus ist.
Matthias Gilbert
@Santiago74 : Die Aussage, daß Gott alles wirkt ist auch durchaus korrekt. Luther hat die Alleinwirksamkeit Gottes mit Recht gegen den zeitgenössischen Semipelagianismus verteidigt. Es ist sogar orthodox zu sagen, daß Gott unseren Willen bewegt. Luthers Fehler ist sein Unvermögen zu sehen, daß Gott die Zweitursachen entsprechend ihrer Natur bewegt, d.h. eine freie Ursache bewegt er im Modus der …More
@Santiago74 : Die Aussage, daß Gott alles wirkt ist auch durchaus korrekt. Luther hat die Alleinwirksamkeit Gottes mit Recht gegen den zeitgenössischen Semipelagianismus verteidigt. Es ist sogar orthodox zu sagen, daß Gott unseren Willen bewegt. Luthers Fehler ist sein Unvermögen zu sehen, daß Gott die Zweitursachen entsprechend ihrer Natur bewegt, d.h. eine freie Ursache bewegt er im Modus der Freiheit. Trotzdem sind wir keine Ursachen neben Gott.
Santiago_
@Carlus
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle gerne danken, dass Sie soviel Zeit und Mühe für ihre zumeist sehr ausführlichen und kenntnisreichen Kommentare investieren. Vergelts Gott!More
@Carlus

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle gerne danken, dass Sie soviel Zeit und Mühe für ihre zumeist sehr ausführlichen und kenntnisreichen Kommentare investieren. Vergelts Gott!
Tina 13
🙏
Möge "klein Menschlein" endlich gescheit werden!More
🙏

Möge "klein Menschlein" endlich gescheit werden!
Carlus
1. Gott ist bekannt was dem einzelnen Menschen hilfreich und notwendig ist;
2. es gibt aber die menschliche Freiheit, diese ermöglicht dem Menschen zu erkennen was nach göttlichem Wissen für ihn notwendig ist, er kann sich auch gegen diesen göttlichen Entschluss stellen und etwas anderes für sich in Anspruch nehmen;
3. somit ist ein Bittgebet, Zugleich ein Dankgebet, da der aufrichtige betende …More
1. Gott ist bekannt was dem einzelnen Menschen hilfreich und notwendig ist;

2. es gibt aber die menschliche Freiheit, diese ermöglicht dem Menschen zu erkennen was nach göttlichem Wissen für ihn notwendig ist, er kann sich auch gegen diesen göttlichen Entschluss stellen und etwas anderes für sich in Anspruch nehmen;

3. somit ist ein Bittgebet, Zugleich ein Dankgebet, da der aufrichtige betende Mensch nur um das bittet was von göttlicher Seite erforderlich ist, mit dieser Bitte geht aber zugleich im Gleichschritt der Dank, für das bereits zugewendete vor der eigenen Erkenntnis,

4. was für den Einzelnen Menschen notwendig ist, das ist auch für eine Gemeinschaft notwendig, sei es der Saat oder die Kirche,
4.1. würde unser Staat (Bürger und Politiker) danach gemeinsam handeln, hätten wir das Chaos nicht und wir müßten uns nicht um einen Flüchtlingsstrom nutzlose Gedanken machen,
4.2. die Kirche hat bis 1969 rethorisch die Gebete so formuliert, seit der NOM das Hauptanliegen der Menschen wurde haben sich die Fürbitten so verändert, daß ich mir oftmals die Ohren zuhalten muß;
4.2.1. die Bitten haben die Rhetorik eines Auftrages an Gott
4.2.2. die Bitte engen oftmals Gottes Wirken ein, wird um den Frieden gebeten, dann für eine Gruppe, obwohl Gott alle beschenkt,
4.2.3. die im Gebet richtige Form kann und darf niemals den Ausschluss anderer Personen führt zu einem sinnlosen Gebet, da sich Gott keine Grenzen setzen lässt,
4.2.4. eine solche Bitte kann nur so lauten um den Frieden für alle Menschen (hier sowohl Freund wie Feind), besonders aber um die göttliche Hilfe für die Menschen XX, die besonders gefährdet sin,

5. dieser Aufträge an Gott gehen bis zur Erteilung des priesterlichen Segen nach der Heiligen Messe, der Vesper Andacht usw. hier wird der Segen ausgeführt, dann fängt der Priester an aufzuzählen für wen und da er nicht alle kennt die Gottes Segen benötigen schränk er Gottes Heilswillen ein,
5.1. Christus lehrte uns wir sollen in seinem Geiste beten und bitten, das ist aber in der seit 1969 gewachsen Gebets- und Liturgiesprache auf den Kopf gestellt.
5.2. der Mensch wurde zum Mittelpunkt, er entscheidet über den Auftrag und diesen erteilt er Gott, damit dieser danach handelt,
5.3. Besetzter Raum sollen seine menschliche Besessenheit aufgeben und wieder in der katholischen Dialektik sprechen und beten, könnte sein daß Gott der Allmächtige im Wirken der Allerheiligsten Dreifaltigkeit wieder erkennen kann, daß wir die Gaben Gottes dankbar annehmen wollen, zum Frieden in Kirche und Welt und zum Heil der menschlichen Seelen
Santiago_
@Tradition und Kontinuität
Dagegen verteidigt Häretiker Luther die absolute Alleinwirksamkeit Gottes. Gott wirkt alles in allem; und es ist für die Entwirrung des Knotens nicht nötig zu sagen: etwas tut Gott, etwas tut der Mensch. 'Gott wirkt alles in allem' ist eine indikativische Aussage!" Gott muss für Luther als der "Antreiber" des menschlichen Willens verstanden werden, der jede Mitwirkung …More
@Tradition und Kontinuität
Dagegen verteidigt Häretiker Luther die absolute Alleinwirksamkeit Gottes. Gott wirkt alles in allem; und es ist für die Entwirrung des Knotens nicht nötig zu sagen: etwas tut Gott, etwas tut der Mensch. 'Gott wirkt alles in allem' ist eine indikativische Aussage!" Gott muss für Luther als der "Antreiber" des menschlichen Willens verstanden werden, der jede Mitwirkung des Menschen ausschließt und den "freien Willen niederstreckt:

Das Kernproblem von Martin Luther
Tradition und Kontinuität
Ein sehr guter Artikel, einprägsam, leicht verständlich und theologisch einwandfrei. Gott ist allmächtig, aber er will, dass wir ihm vertrauen, eben auch dadurch, dass wir uns im Gebet an ihn wenden. Sehr tröstlich finde ich die (biblisch begründete) Aussage: Gott hört jedes Gebet. Ora et labora!
Santiago_
Santiago_
Dieser Artikel macht sehr schön deutlich, dass Gottes Vorsehung nicht mit Determinismus verwechselt werden darf. Und es daher durchaus (zumindest theoretisch) einen "papa haereticus" geben könnte.
Card. Scheffczyk - Könnte es einen "papa haereticus" geben?More
Dieser Artikel macht sehr schön deutlich, dass Gottes Vorsehung nicht mit Determinismus verwechselt werden darf. Und es daher durchaus (zumindest theoretisch) einen "papa haereticus" geben könnte.

Card. Scheffczyk - Könnte es einen "papa haereticus" geben?