Die jüngste Bürgermeisterin Afghanistans fürchtet weder den Tod noch die Taliban

Eine junge Frau, selbstbewusst, unverschleiert, einflussreich. Zarifa Ghafari ist eine der ersten Bürgermeisterinnen Afghanistans und für viele Landsleute eine Provokation.

Ruth Fulterer
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Fürchtet weder Tod noch Taliban: die jüngste Bürgermeisterin Afghanistans, Zarifa Ghafari.

Fürchtet weder Tod noch Taliban: die jüngste Bürgermeisterin Afghanistans, Zarifa Ghafari.

Karin Hofer / NZZ

Der Tag im Sommer 2018, an dem sie ihr Amt in der Stadt Maidan Shar hätte antreten sollen, sei der schlimmste ihres Lebens gewesen, erzählt Zarifa Ghafari: «Vor dem Regierungsgebäude stand ein Mob von Männern mit Stöcken. Sie versperrten mir den Weg, warfen mit Steinen nach mir.» Ghafari flüchtete ins Auto, ein Stein durchschlug das Seitenfenster. Schliesslich eskortierte die Polizei sie zurück nach Kabul.

Neun Monate lang musste sie kämpfen, um ihre Stelle als Bürgermeisterin tatsächlich antreten zu können, erzählt die 27-Jährige der NZZ am «Basel Peace Forum», einem Kongress, bei dem sich Wissenschafter und Praktiker zum Thema Frieden austauschen. Bis heute pendelt sie täglich von Kabul in ihre Stadt, zwei Autostunden in jede Richtung. Als unverheiratete Frau allein in Maidan Shar zu leben, wäre zu gefährlich. In der Hauptstadt der konservativen Provinz Wardak bleiben Frauen in der Regel unsichtbar, sind kaum unterwegs, tragen Burka.

Ghafari zieht sich in Afghanistan nicht anders an als in Basel: Sie trägt einen altrosafarbenen Blazer mit traditionellen afghanischen Stickereien. Ihre Fingernägel hat sie dunkelrot lackiert. Sie erzählt lebhaft auf Englisch und kümmert sich nicht darum, dass ihr locker gebundener Hijab dabei nach hinten rutscht.

Maidan Shar hat 35 000 Einwohner. Grosse Flächen liegen brach, aber es ist schwer, an ein Grundstück zu kommen, weil eine lokale Landmafia einen Grossteil der Ländereien besitzt. Die Taliban haben in vielen Gebieten rings um die Stadt die Kontrolle. Wer wie Ghafari täglich aus Kabul pendelt, riskiert sein Leben.

Ghafari wurde nicht gewählt. Sie bewarb sich in einer öffentlichen Ausschreibung um den Bürgermeisterposten, als einzige Frau unter 138 Anwärtern. Lokale Wahlen zu organisieren, wäre ein grosser organisatorischer und finanzieller Aufwand für das Land – und obendrein gefährlich. Zu oft haben die Taliban bei Wahlen Anschläge verübt. Deshalb organisiert die Zentralregierung Eignungstests. Damit bringt sie junge, hochqualifizierte Afghanen in hohe Ämter. In der afghanischen Gesellschaft ist es ungewöhnlich, dass junge Menschen so viel Einfluss bekommen – besonders, wenn es Frauen sind.

Als Ghafari nach dem verhinderten Amtsantritt bei der Regierung protestierte, legte man ihr nahe, sich doch an einen bequemeren Posten versetzen zu lassen. Sie aber machte ihre Geschichte auf den sozialen Netzwerken bekannt. «Ich habe ein Recht auf dieses Amt», sagt sie, «ich war die beste Anwärterin. Wo kommen wir hin, wenn wir unsere Bürgerrechte so schnell aufgeben?» Nach sechs Monaten bekam sie einen neuen Termin. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit sollte sie vereidigt werden. Als sie in Maidan Shar ankam, war das Büro, in dem sie hätte arbeiten sollen, von Männern mit Maschinengewehren besetzt.

Ghafari filmte die Szenen und stellte die Videos ins Netz. Sie drohte, sich vor dem Präsidentenpalast in Kabul anzuzünden, wenn sie nicht endlich ihre Stelle antreten könne. Inzwischen verfolgten Tausende von Afghanen ihre Geschichte. Im Frühjahr 2019 war es endlich so weit, sie konnte anfangen. «95 Männer arbeiten für mich. Sie freuen sich über Lob von mir und müssen akzeptieren, wenn ich sie zurechtweise», erzählt sie.

In ihrer Kindheit herrschten die Taliban

Ghafari ist unter der Herrschaft der Taliban aufgewachsen, als Frauen sich kaum öffentlich zeigen durften, geschweige denn arbeiten. Dass sie für Islamisten und Angehörige der Landmafia eine natürliche Feindin bleibt, ist ihr klar: «Ich weiss, dass sie mich töten wollen. Das gehört zum Job.»

Ihre Hände sind über und über vernarbt. Allerdings nicht von einem Anschlag, sondern von einem Haushaltunfall. Vor zwei Monaten explodierte eine Gasflasche in der Küche der Wohnung, in der sie mit ihren Eltern lebt. Ghafari lag noch mit schweren Verbrennungen im Krankenhaus, als im Internet schon Lügen über sie verbreitet wurden: Sie habe sich auf einer Party verletzt, bei der auch Männer anwesend gewesen seien.

Auch in Maidan Shar selbst nutzte man die Gelegenheit, sie zu diskreditieren: Der Gouverneur habe ihre Krankmeldung ignoriert und stattdessen vermeldet, sie sei unentschuldigt abwesend, erzählt sie. Noch bevor die Brandnarben verheilt waren, liess sich Ghafari täglich nach Maidan Shar fahren, um ihre Anwesenheit einzutragen.

Durch ein Porträt in der «New York Times» wurde Ghafari international bekannt. Die BBC wählte sie unter die hundert einflussreichsten und inspirierendsten Frauen des vergangenen Jahres, das Lifestylemagazin «Instyle» nahm sie in die Liste der «Badass 50 2020» auf, also der 50 härtesten Frauen des Jahres.

Zarifa Ghafari freut sich über den Zuspruch, den sie dadurch in Afghanistan und anderen Ländern bekommt. Um von der Lokalbevölkerung akzeptiert zu werden, muss sie allerdings Ergebnisse liefern. «Die Menschen hier sind nicht gewohnt, dass die öffentliche Hand irgendetwas für sie tut», sagt sie.

In Afghanistan sind die Lokalregierungen für ihr Steuergeld selbst verantwortlich. Dadurch haben sie relativ viel Gestaltungsmacht. Ghafari will das nutzen: Sie geht mit ihren Mitarbeitern persönlich in Geschäften vorbei, um die Steuern einzutreiben. Unter dem Slogan «Saubere Stadt – grüne Stadt» wirbt sie dafür, Altpapier und -metalle einzusammeln. Die Gemeinde soll in Zukunft an deren Wiederverkauf verdienen. In ihrem ersten Amtsjahr habe die Stadt mehr Geld eingenommen als je zuvor, sagt die Bürgermeisterin.

Ein Markt nur für Frauen

Mit dem Geld liess sie eine Strasse weiterbauen, die schon jahrelang in Planung gewesen war, ohne dass sich etwas getan hätte. Sie eröffnete einen Markt, in dem nur Frauen kaufen und verkaufen dürfen. Dies schuf Arbeitsplätze für Frauen und ist für viele die einzige Möglichkeit, überhaupt an Dinge wie Intimprodukte zu kommen. Binden von Männern zu kaufen, wäre für viele nicht vorstellbar. Letzteres überzeugte schliesslich die konservativen Männer, die gegen ihre Idee gewesen waren.

Jetzt plant die junge Bürgermeisterin gemischte Schulen für Mädchen und Jungen sowie eine kleine Bibliothek. Aus einem ungenutzten Hügel will sie eine öffentliche Naherholungszone machen. Für das dringendste Bedürfnis der Bevölkerung – mehr Sicherheit – kann sie jedoch wenig tun.

Dass Ghafari trotz den öffentlichen Anfeindungen bestehen kann, liegt auch am Rückhalt, den sie in ihrer liberalen Familie geniesst. Sie wurde als Tochter eines Soldaten und einer Physikerin 1992 in Kabul geboren. Als Älteste von acht Geschwistern übernahm sie früh Verantwortung, holte Wasser, ging einkaufen und passte auf ihre Geschwister auf. Als sie vier Jahre alt war, kamen die Taliban an die Macht. Trotzdem trug sie ihre Haare kurz, kleidete sich in Jeans und T-Shirt. Sie lernte, sich schnell zu bedecken, wenn Taliban in der Nähe waren.

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Eine Nachbarin lehrte sie im Geheimen Englisch. Erst mit 12 Jahren konnte Ghafari in die Schule gehen. Wegen der Arbeit des Vaters war die Familie in die Provinz Paktia gezogen. Die Schule war die erste in der ganzen Provinz. Das war 2004, Afghanistan war nun offiziell «stabil», die ersten Wahlen wurden abgehalten, und Frauen bekamen die gleichen Bürgerrechte zugesprochen wie Männer. Zarifa Ghafari war das einzige Mädchen an ihrer Schule. «Ich lief eine Stunde zu Fuss hin, vorbei an Minen, immer wieder gab es Anschläge», erzählt sie.

Zweifel an den Friedensverhandlungen

Nach dem Schulabschluss hätten Verwandte gerne ihre Heirat eingefädelt. Doch Ghafari wollte ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Sie ging nach Indien, um Ökonomie zu studieren. Nebenbei arbeitete sie und verdiente genug Geld, um in Afghanistan eine NGO aufzubauen, die Frauenvereine unterstützt. Ausserdem gründete sie einen Radiosender für junge Frauen. Über diese Tätigkeiten lernte sie jene Freunde kennen, die sie überredeten, am Wettbewerb fürs Bürgermeisteramt teilzunehmen.

Zarifa Ghafari bezweifelt, dass sie den Frieden in ihrem Land noch erleben wird. Dass der amerikanische Präsident Donald Trump im September die Friedensverhandlungen mit den Taliban vorübergehend stoppte, ist ihr recht. Auch wenn die Islamisten jüngst versprachen, Frauenrechte mehr zu achten, ist Ghafari überzeugt, dass sie den Frauen bei erster Gelegenheit alle Rechte wieder nehmen würden. Diesen Preis sollte ihr Land nicht für den Frieden bezahlen, sagt sie.

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