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Meinung Pandemie-Bekämpfung

Schluss mit dem Lockdown – Es geht ums Optimieren

Das Optimum zu suchen wäre in der Krise geboten, fordert Ökonom Thomas Straubhaar Das Optimum zu suchen wäre in der Krise geboten, fordert Ökonom Thomas Straubhaar
Lockdowns tendieren dazu, Ungleiches gleichzubehandeln, kritisiert WELT-Kolumnist Thomas Straubhaar
Quelle: Getty Images/ imageBROKER/Karl F. Schoefmann; picture alliance / SCHROEWIG/RD
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Lockdowns stehen in Gegensatz zu nachhaltiger Politik. Sie sind eher zentralistische Pläne ohne Rücksicht auf spezifische Lösungen vor Ort. Das mag politisch praktisch sein. Gesellschaftlich gibt es bei dieser Form des Durchregierens aber ein zentrales Problem.

Es stimmt. Menschen haben Schwierigkeiten mit exponentiellem Wachstum. Bei den meisten fehlen im Alltag praktische Erfahrungen mit Entwicklungen, die sich pro Zeitraum vervielfachen. Entsprechend schwer fällt es, sich vorzustellen, wie schnell Fallzahlen bei Infektionen ansteigen.

Beispielsweise, was es bedeutet, wenn sie sich pro Monat verdoppeln. Was Anfang Januar mit 1000 Infizierten harmlos beginnt, betrifft im Februar 2000, im März 4000 und im April 8000 Personen. Das geht dann so weiter – und zwar Monat für Monat. Wer Spaß an Mathematik hat, kann ohne große Anstrengung von Hand ausrechnen, dass die Fallzahlen im November die Ein-Millionen- und Ende des Jahres die Zwei-Millionen-Grenze überschreiten.

Zur Frühlingsmitte des Nachfolgejahres nach 16,3 Monaten (also um den 10. Mai herum) wären 82 Millionen Infizierte zu vermelden, was so in etwa der Wohnbevölkerung Deutschlands entspricht. Derart rasant ist die Dynamik exponentiellen Wachstums – in der Theorie.

Menschen haben in der Regel einen gesunden Verstand, der ihnen hilft abzuwägen

In der Praxis sieht das etwas anders aus, was auch gerade eine Begründung liefert, wieso Menschen so wenig alltägliche Erfahrungen mit exponentiellem Wachstum haben. Denn im Alltag bremst oft irgendwo irgendetwas eine ungezügelte Dynamik.

Das trifft dann ganz besonders zu, wenn die Folgen einer ungehinderten Ausbreitung von einer Bevölkerung als schwerwiegend negativ bewertet werden. Dann ergreifen Menschen Gegenmaßnahmen. Sie verändern ihr Verhalten. Sie schützen sich, sorgen vor, waschen die Hände, halten Abstand, tragen Masken, lüften die Räume und lassen sich impfen.

Bereits hier lässt sich ein Zwischenergebnis festhalten: Die Anpassungsreaktionen dürften umso intensiver ausfallen, je unerwünschter die Folgeschäden exponentieller Entwicklungen eingestuft werden. Oder anders ausgedrückt: Menschen haben in aller Regel einen sehr gesunden Verstand, der ihnen hilft abzuwägen, wann sie die Dinge laufen lassen können, und wann sie zu reagieren haben – notfalls auch schnell und radikal.

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Die Vermeidungsaktivitäten erzwingen an sich eine ständige Korrektur der theoretischen Berechnungen, wie sich Infektionszahlen weiterentwickeln. Viele der Prognosemodelle zum Pandemieverlauf kranken jedoch daran, dass sie die Verhaltensänderungen entweder gar nicht berücksichtigen.

Oder aber, dass sie maßlos unterschätzen, wie rasch Menschen reagieren und vor allem zu reagieren bereit sind, wenn sie verstanden haben und akzeptieren, dass etwas gemacht werden soll, damit exponentielle Gefahrenverläufe gebremst oder gar gebrochen und gestoppt werden können. Genau deshalb ist die Geschichte der Menschheit bis anhin eine derartige Erfolgsgeschichte.

Die mit dem Modewort „Resilienz“ bezeichnete Adaptions- und Adoptionsfähigkeit von Gesellschaften ermöglichte es, dass heutzutage mehr Menschen besser, länger und gesünder leben als jemals zuvor – aller Kriege, Katastrophen und Krisen zum Trotz.

Während Deutschland im Lockdown ist, öffnen Nachbarländer bereits

Während Deutschland bei einer Inzidenz von rund 160 im harten Lockdown verharrt, kehren viele Nachbarländer zumindest schrittweise zur Normalität zurück. Und das obwohl die Zahlen dort deutlich höher sind.

Quelle: WELT

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Anpassungsreaktionen jedoch sind nicht kostenlos zu haben. Sie sind mit Folgen verbunden. Damit stellen sich einige Fragen. Wer soll wann wo und wie welchen Anteil leisten? Die meisten Antworten lassen sich nicht in objektiven und absoluten Kriterien beantworten. Vielmehr sind sie mit Werturteilen verbunden.

Die jedoch schwanken je nach Betroffenheit von Person zu Person – teils dramatisch. Was für die einen ein No-Go ist, ist für andere eine Selbstverständlichkeit. Dass da Einheitslösungen der Vielfalt der Bedürfnisse und Notwendigkeiten nicht gerecht werden, ist offensichtlich.

Wer aber entscheidet, welche Abwägung die richtige ist – gerade, wenn es um Leben oder Tod geht? Um auch hier ein Zwischenfazit zu ziehen: Es gibt kein Verhalten ohne Risiken. Wer mit einer „No Covid“-Strategie argumentiert, provoziert Illusionen einer „No Risk“-Politik, die in der Wirklichkeit nicht zu haben ist.

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Deswegen rechtfertigt auch ein noch so gut gemeinter Kampf gegen das Coronavirus nicht jedes Mittel. Folgen eines Lockdowns gefährden auch Menschenleben. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein weiter verschärftes Vorgehen an anderer Stelle noch mehr Opfer fordert.

Somit lautet die Rechenregel: Die Summe aller Risiken ist zu minimieren, nicht nur ein Einzelrisiko. Also sowohl die direkten Infektionsfolgen wie genauso die indirekten Folgen eines Lockdowns auf alle Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft sind entscheidend. Das aber hat mit Abwägung zu tun, was nichts anderes meint, als nach einem „Optimum“ zu suchen.

An der Stelle zeigt sich, dass Menschen nicht nur mit exponentiellen Entwicklungen ihre Schwierigkeiten haben. Noch größer sind ihre Probleme mit Optimierungsprozessen. Das hat auch etwas mit dem Mathematikunterricht in deutschen Gymnasien zu tun. Wie sich Maxima oder Minima berechnen lassen, gehört vielerorts zum Grundwissen fürs Abitur.

Mithilfe vergleichsweise einfacher Überlegungen (im mathematischen Fachjargon „Kurvendiskussion“ genannt) lassen sich „nach Schema X“ Extremwerte feststellen – wann etwas am besten oder am schlechtesten läuft. Also wie sich beispielsweise Infektionszahlen minimieren oder die Wirkungen eines Lockdowns maximieren lassen.

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Optimierungsaufgaben jedoch sind deutlich komplexer. Was ein Lagrange-Multiplikator ist, müssen selbst noch viele Studierende googeln oder bei Wikipedia nachschlagen (es ist ein mathematisches Verfahren, um optimale Lösungen zu bestimmen). Denn hier geht es nicht nur um einen einzelnen Sachverhalt, sondern immer um mehrere, die es gleichzeitig zu berücksichtigen gilt.

Also nicht nur Aktion, sondern auch Reaktion; nicht nur direkte Folgen hier, sondern auch indirekte Nebenwirkungen andernorts. Das macht das Ganze schwierig und unübersichtlich; mehrdimensional statt eindimensional.

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Wer auf Lockdowns setzt, denkt eher in (einfachen, aber bekannten) Extremwerten als in (schwierigen und zudem unbekannten) Optimierungsprozessen. Da stehen Inzidenzwerte im Zentrum aller Entscheidungen. Sie gilt es zu minimieren oder zumindest zu unterschreiten.

Die Wirklichkeit jedoch ist komplexer. Extremwerte können höchstens in absoluten Notsituationen und lediglich für die sehr kurze Frist eine Orientierungshilfe bieten – so geschehen vor einem Jahr bei Ausbruch der Pandemie.

Denn sie verletzen die Erkenntnis, dass Menschen Folgen von Gefahren – und seien diese noch so dramatisch – unterschiedlich bewerten. Deshalb bedeutet nachhaltige Politik immer die schwierige Suche nach Optima und nicht einfach nach Maxima oder Minima. Es ist der Kompromiss, der politisch anzustreben ist, nicht das Extrem.

Nicht Einäugigkeit ist gefragt, sondern Vielschichtigkeit

Für eine längerfristig nachhaltige Politik bieten Lockdowns keine Hilfe. Sie beschränken die Abwägung. Sie atmen den Geist zentralistischer Einheitslösungen ohne Rücksicht auf Verluste spezifischer Lösungen vor Ort. Sie tendieren dazu, Ungleiches gleichzubehandeln. Das mag politisch praktisch sein. Gesellschaftlich dürfte es als inakzeptabel empfunden werden.

Wer komplexe Sachverhalte zu bewältigen hat, darf sich die Sache nicht einfach machen und auf generelle Lockdowns setzen. Nicht Einäugigkeit ist gefragt, sondern Vielschichtigkeit. Kein politisch nachhaltig gangbarer Weg führt an der Lösung eines Optimierungsproblems vorbei.

Dabei geht es nicht nur um geografische Differenzierung nach Landkreisen. Vielmehr muss zwischen einzelnen Personen unterschieden werden. Je mehr man über das Coronavirus und seine Risiken weiß und je mehr Menschen geimpft sind, desto mehr gilt es abzuwägen, zu differenzieren und ungleiche Voraussetzungen auch unterschiedlich zu behandeln. Optimierung erschwert politische Prozesse. Aber sie sorgt für mehr gesellschaftliche Akzeptanz als kompromissloses Durchregieren.

Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg.

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