Kommentar

Was ist Wahrheit?

Karfreitag und Ostern markieren nach christlichem Glauben den heilsgeschichtlichen Wendepunkt. Er spiegelt sich in der Wahrheitsfrage des römischen Statthalters Pilatus wider – bis heute.

Uwe Justus Wenzel
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«Was ist Wahrheit?» In dem Echoraum dieser Frage leben «Christen, Nichtchristen, Unchristen, Antichristen» auch heute noch. (Bild: Cyril Zingaro / Keystone)

«Was ist Wahrheit?» In dem Echoraum dieser Frage leben «Christen, Nichtchristen, Unchristen, Antichristen» auch heute noch. (Bild: Cyril Zingaro / Keystone)

In dem heilsgeschichtlichen Drama, das Christenmenschen sich in der Karwoche und an Ostern vergegenwärtigen, gibt es viele Mitwirkende, zentrale Figuren um den Messias und solche am Rande. In das Apostolische Glaubensbekenntnis, das die wesentlichen Akte jenes Heilsgeschehens knapp rekapituliert, haben von den dramatis personae indes bloss sehr wenige Eingang gefunden. Neben Gott und dem Heiligen Geist, neben Jesus und Maria wird namentlich nur noch einem Statthalter des römischen Kaisers diese Ehre zuteil – wie auch diejenigen wissen werden, die das Credo nicht mehr sprechen: «. . . gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben . . .» Was aber hat der (historisch verbürgte) Kommandant einer «heidnischen» Besatzungsmacht im Bekenntnis der Christen, im liturgischen Konzentrat ihres Glaubens, verloren? Ein Mensch zudem, den Karl Barth, der evangelische Kirchenvater des 20. Jahrhunderts, einmal als «eine unerfreuliche und unansehnliche Gestalt mit einem ausgesprochen unerquicklichen Charakter» vor Augen gestellt hat?

Wie kommt Pilatus ins Credo?

Ins Credo ist jener römische Präfekt auf Beschluss des Zweiten Ökumenischen Konzils im Jahr 381 gekommen – vordergründig wohl, um die Passionsgeschichte mit der Überzeugungskraft einer historischen Beglaubigung auszustatten. Doch verbindet sich mit seinem Namen nicht nur eine schlichte Zeitangabe: Es geschah in den Tagen, als Pontius Pilatus Landpfleger war. Der Name steht auch für eine Zeitenwende, für den alles entscheidenden Wendepunkt in ebenjenem Drama, für ein Momentum, in dem Unheilsgeschichte und Heilsgeschichte einander kreuzen. Ohne Pontius Pilatus wäre, schenkt man den Evangelien Glauben, der jüdische Wanderprediger aus Nazaret nicht hingerichtet worden und nicht den qualvollsten Tod gestorben, den das römische Strafrecht Delinquenten niederen Standes vorbehielt. – Es hätte nicht sein müssen, Pilatus hätte dem Ansinnen der Hohepriester nicht stattgeben müssen, Jesus wegen Anstiftung zu Aufruhr und wegen Hochverrats zu verurteilen – wegen der Prätention, «König der Juden» zu sein. Hätte der fremde Richter es freilich nicht getan, hätte eben nicht nur das Unheil der Hinrichtung des Gottessohns nicht seinen Lauf genommen, sondern auch das Heil der Auferstehung Jesu nicht, an dem teilzuhaben den Christusgläubigen verheissen ist.

So «nötig» das Stattgeben des Statthalters unter dem Aspekt einer heilsgeschichtlichen Dramaturgie auch sein mag, so verstörend bleibt, dass Pilatus kundtut, keine Schuld an dem Angeklagten finden zu können – und dann doch nachgibt. Das Zwielicht, in das die Rolle des Pontius Pilatus in den Evangelien getaucht ist, beherrscht die Szenerie bis heute. Gegensätzlichste Ausdeutungen und Variationen sind aktenkundig. Das Charakterbild der heilsnotwendigen Figur schwankt drastisch in der Geschichte und in den Geschichten. Vom tölpelhaften Staatsfunktionär und feigen Opportunisten, der seine Hände in der sprichwörtlich gewordenen Unschuld wäscht, über den philosophischen Skeptiker bis zum Heiligen, als der Pilatus in der koptischen Kirche verehrt wird, reicht das Spektrum. In der gefahrvollen Frühzeit des Christentums, als es galt, die imperialen römischen Verfolger und Unterdrücker zu besänftigen und für sich zu gewinnen, wurde Pilatus mitunter zum «geheimen», dann sogar zu einem der ersten bekennenden Christen stilisiert. Später, in unzähligen Ausgeburten volksreligiöser Phantasie, die sich in verschiedensten Gegenden Europas einnisteten, gewann der Bösewicht über den Heilshelfer immer wieder die Oberhand. So anscheinend auch in der Sage, die sich um den Luzerner Hausberg (der seinen Namen zwar wohl nicht dem römischen Präfekten verdankt) und um den inzwischen zum Hochmoor gewordenen Pilatussee dreht: Alljährlich am Karfreitag tauche ein purpurner Thron aus dem See auf, auf dem – von Teufeln dorthin gesetzt – Pilatus sich die Hände wasche. Wer das Pech haben sollte, den Wiedergänger zu sehen, werde das Jahr nicht überleben . . .

Dem vielgesichtigen Pilatus hat Johann Caspar Lavater, Zürcher Pfarrer und philosophierender Schriftsteller, gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein eindrucksvolles, nurmehr wenig bekanntes Denkmal gesetzt – in Form eines vierbändigen Buches der Erbauung und Erklärung. Eine seiner Titelvarianten lautet: «Pontius Pilatus. Oder Der Mensch in allen Gestalten. Oder Höhe und Tiefe der Menschheit.» Die bemerkenswerte «Schrift zur Schande und zur Ehre unseres Geschlechts» bietet sich «Christen, Nichtchristen, Unchristen, Antichristen» zur Lektüre an. Lavater erhebt Pilatus, der «alles in einem» gewesen sei, «Licht und Finsternis», ebendeshalb zum «Repräsentanten des ganzen menschlichen Geschlechts». Er tut es auch und insbesondere wegen der «Frage aller Fragen», die der römische Statthalter an den ihm vorgeführten jüdischen Gefangenen richtet: «Was ist Wahrheit?»

Mit der Frage, auf die er keine Antwort erhält, quittiert Pilatus im Johannesevangelium, was Jesus ihm zuvor über seine Mission mitteilt: Er sei in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Und: «Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme.» Die neue Zürcher Bibel übersetzt das Wort Jesu verdeutlichend: «Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.» Zwischen den beiden Übersetzungsmöglichkeiten, zwischen dem Hören und dem Hören-auf, dem blossen Vernehmen und dem Verstehen, so könnte man mit einem Körnchen Salz sagen, bewegt sich die Lebenswirklichkeit des Pilatus in ihrem dramatischsten Augenblick.

Im Echoraum

«Was ist Wahrheit?» In dem Echoraum dieser Frage leben «Christen, Nichtchristen, Unchristen, Antichristen» auch heute noch. An der Frage mögen sich die Geister scheiden – sie können sich in deren Nachhall aber auch, nach Antworten suchend, aufeinander beziehen und zubewegen. Jedenfalls dann, wenn die Frage nicht so verstanden wird, als wolle Pilatus sagen: «Wahrheit – was ist das schon!» So hat Friedrich Nietzsche, dem jede Wahrheit nur eine neue Form der Lüge war, die Frage gedeutet – und Pilatus für seinen «vornehmen Hohn» gelobt und ihn als «einzige Figur» des ganzen Neuen Testaments hervorgehoben, «die man ehren muss». Doch die Ehre, im christlichen Glaubensbekenntnis genannt zu werden, verdient Pontius Pilatus nur, sofern und weil er die Wahrheitsfrage ohne Hohn stellt und offenhält. Offen bleibt sie, solange der allerletzte Akt des heilsgeschichtlichen Dramas noch aussteht, in gewisser Weise sogar für die, die an den auferstandenen Christus glauben.