Corona: Die RKI-Protokolle und die Arroganz des Lothar Wieler

Der frühere RKI-Chef gibt der „Tagesschau“ ein schlimmes Interview zu Corona. Ist das die Flucht nach vorne, weil nun neue Fakten ans Licht kommen? Eine Analyse.

Lothar Wieler
Lothar WielerCarsten Koall/dpa

Lothar Wieler, früherer Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), wurde von der „Tagesschau“ zum Jahrestag des Corona-Lockdowns interviewt. Das Gespräch ist, man kann es nicht anders sagen, an Ignoranz und Selbstgerechtigkeit nicht zu überbieten.

Die „Tagesschau“, die sich in ihrer Berichterstattung während der Pandemie selbst immer wieder kritiklos in den Dienst der Regierung stellte, fragt Wieler: „Wir haben eine starke Polarisierung der Gesellschaft in der Pandemie erlebt. Gruppen, die nicht faktenbasiert Impfungen infrage gestellt haben – oder andere Corona-Maßnahmen. Hätten Sie sich das vorher so drastisch vorgestellt?“ Soll heißen: Die einzige Kritik an den Impfungen kam demnach von Gruppen, die dumm und bösartig waren, weil sie die angeblich über jeden Zweifel erhabenen Impfungen „nicht faktenbasiert infrage gestellt haben“.

Die „Tagesschau“ fragt so arglos, obwohl mittlerweile bekannt ist, dass die Bundesregierung „nicht faktenbasiert“ die Leute gegängelt hat. So räumte einer der Autoren des berüchtigten Angst-Papiers, Heinz Bude, neulich auf einer Podiumsdiskussion in Graz ein, dass man Dinge schlicht erfunden habe, um die Bevölkerung zu steuern. Er sagte laut Transkript: „Wir haben gesagt, wir müssen ein Modell finden, um Folgebereitschaft herzustellen, das so ein bisschen wissenschaftsähnlich ist. Und das war diese Formel, flatten the curve, dass wir gesagt haben: Wie können wir die Leute überzeugen, mitzutun? Wir sagen denen, es sieht so nach Wissenschaft aus, nee? Man sagt: Wenn ihr, wenn ihr schön diszipliniert seid, könnt ihr die Kurve verändern. Das heißt quasi, man kann – es gibt eine Veranschaulichung von individuellen Verhaltensveränderungen in einer Art von wissenschaftlicher Darstellbarkeit. Das war in dieser, in dieser Form mit drin. Das haben wir geklaut von einem Wissenschaftsjournalisten, [wir] haben [es] nicht selber erfunden.“

Auch die Industrie räumt ein, dass die ganze Operation ein Blindflug war. So sagte eine Sprecherin von Pfizer in einem Hearing des EU-Parlaments, man habe keine Ahnung gehabt, ob die Impfung die Ansteckung verhindert – entsprechende Studien wären zeitlich gar nicht möglich gewesen. Heute ist bekannt, dass dieses wichtigste Kriterium für die drakonische Einschränkung der Grundrechte zu keinem Zeitpunkt erfüllt war. Was das Unternehmen der EU versprochen hat, ist unbekannt – Ursula von der Leyen rückt ihre diesbezügliche Chat-Korrespondenz mit Pfizer-Chef Albert Bourla bis heute nicht heraus.

Die Möglichkeit, dass qualifizierte Kritik in vielen Punkten damals schon zu hören und in der Rückschau sogar begründet war, schließt die „Tagesschau“ in ihrer suggestiven Fragestellung aus. Und das, nachdem nur wenige Tage zuvor der Spiegel einen kleinen Anschub in Richtung Manöver-Kritik gegeben hat: In der gedruckten Ausgabe vom 8. März dieses Jahres wird der frühere Kanzleramtsminister Helge Braun mit den Worten zitiert, die Bundesregierung habe „die Wirkmächtigkeit der Impfstoffe anfangs zu hoch eingeschätzt“. In-Frage-Stellungen der Wirkmächtigkeit hatte es schon zu Corona-Zeiten gegeben.

Guten Morgen, Berlin Newsletter
Vielen Dank für Ihre Anmeldung.
Sie erhalten eine Bestätigung per E-Mail.

Die Ständige Impfkommission (Stiko) wurde allerdings von der Bundesregierung mit massivem öffentlichen Druck dazu genötigt, die Impfung für Kinder trotz Bedenken freizugeben. Stiko-Chef Thomas Mertens sagte, er würde sein eigenes Kind nicht impfen lassen – und musste zurückrudern. Zählt die „Tagesschau“ auch Mertens zu der Gruppe derer, die „nicht faktenbasiert Impfungen infrage gestellt haben“? Dann bekommt auch er in der Antwort von Wieler sein Fett weg. Der RKI-Chef antwortet herablassend: „Dass es so spalterisch und intensiv wird, hätte ich nicht gedacht. Aber es wird solche Tendenzen immer geben. Es gibt Menschen, die bewusst Fehlinformationen streuen. Es ist schwer, dagegen anzugehen. Dem kann man nur fachliche kompetente, unaufgeregte Sachlichkeit gegenüberstellen.“

Man muss Wieler an dieser Stelle entgegenhalten, dass es seine Behörde war, die „Fehlinformationen gestreut“ hatte: In dem Spiegel-Artikel sagt Braun nämlich, die Bundesregierung sei „gestützt auf einen ersten Bericht des Robert-Koch-Instituts davon ausgegangen, dass Geimpfte auch vor Ansteckungen sicher seien“. Braun: „Wir haben das Impfen als eine Lösung für den Ausstieg aus der Pandemie beworben und eine Erwartung geschürt, die wir am Ende nicht erfüllen konnten.“

Die „fachliche kompetente unaufgeregte Sachlichkeit“ des Tierarztes Wieler ist den Deutschen unter anderem mit der Aufforderung in Erinnerung, man müsse nur noch für einige Monate „die Pobacken zusammenkneifen“ und bis dahin widerspruchslos den von ihm für nötig gehaltenen Vorschriften gehorchen – inklusive eines Plädoyers für die allgemeine Impfpflicht, weil wir „ausreichend fundierte Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit haben“, wie er der Zeitung Die Welt damals sagte. Während Helge Braun erfreulicherweise Selbstkritik erkennen lässt, stilisiert sich Lothar Wieler auch heute noch zum unanfechtbaren Alleswisser. Das macht er allerdings nur im geschützten Raum des „Tagesschau“-Interviews: Vor dem Untersuchungsausschuss des Brandenburger Landtags hatte sich Wieler vor einigen Wochen auffallend oft auf „Erinnerungslücken“ und seine eingeschränkte Auskunftspflicht zurückgezogen. Im Übrigen, so Wieler laut dem Nordkurier, sei er stets nur als Berater tätig gewesen, die Entscheidungen hätten andere getroffen. Wieler diente der Obrigkeit, auch dort, wo er fachlich kompetent hätte die Stimme erheben müssen. Tim Röhn schreibt in der Welt, Wieler sei „in Pressekonferenzen neben Gesundheitsminister Lauterbach“ gesessen und „ließ ihm Falschbehauptungen durchgehen“.

Allerdings könnte es für Wieler, der jetzt noch rasch Geschichtsklitterung betrieben hat, schon bald ungemütlich werden. Das Magazin Multipolar hat erfolgreich auf die Veröffentlichung der Protokolle der internen Besprechungen des Corona-Krisenstabs geklagt. Die Besprechungen wurden in der Regel von Wieler und dessen Stellvertreter, Lars Schaade, der heute der Chef der Behörde ist, geleitet.

Multipolar hat die Protokolle verdienstvollerweise öffentlich zugänglich gemacht. Zwar sind noch zahlreiche Stellen geschwärzt. Doch schon eine erste Auswertung zeigt: Mit der von Wieler für sich reklamierten „Kompetenz“ ist es nicht weit her.

Das ZDF hat – wie Multipolar – die Dokumente analysiert und schreibt: „Am 17. März 2020 stuft das RKI die Risikoeinschätzung für die Gesundheit der Deutschen von ‚mäßig‘ auf ‚hoch‘ herauf. Einen Tag zuvor ist in den Dokumenten vermerkt, die neue Risikobewertung solle vorbereitet und ‚hochskaliert‘ werden.“ In den Protokollen heißt es, dass die Entscheidung eben nicht sachlich begründet war. Hier steht: „Die Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald (Personenname geschwärzt) ein Signal dafür gibt.“ Den entscheidenden Akteur macht das RKI unkenntlich. Auf welcher wissenschaftlichen Grundlage die Hochstufung erfolgt, ist unklar. Das ZDF erklärt: „Tatsächlich waren zu diesem Zeitpunkt die Fallzahlen nicht dynamisch gestiegen. In der Zeit zwischen dem 9. und 15. März 2020 wurden sechs Prozent der in Deutschland Untersuchten positiv getestet. Eine Woche später waren es sieben Prozent.“

Multipolar resümiert: „Die Verschärfung der Risikobewertung von ‚mäßig‘ auf ‚hoch‘ – Grundlage sämtlicher Lockdown-Maßnahmen und Gerichtsurteile – gründete, anders als bislang geglaubt, nicht auf einer fachlichen Einschätzung des RKI, sondern auf der politischen Anweisung eines externen Akteurs.“ Als am 16. Dezember der zweite Lockdown begonnen hat, vermerkt das RKI mit Blick auf den internationalen Umgang mit Covid-19: „Lockdowns haben zum Teil schwerere Konsequenzen als Covid selbst.“ Wie Hohn klingt Wielers Reflexion in dem Interview: „Die Hauptlehre ist sicher, wie leistungsfähig diese Gesellschaft ist, große Probleme zu lösen. Man hat in den ersten Monaten gemerkt, wie unglaublich solidarisch die Leute waren, wie sie sich den Herausforderungen gestellt haben – auch mit unkonventionellen Lösungen. Viele wurden kreativ bei der Lösungssuche.“

Auch in anderen Anordnungen, die von Kritikern von Anfang an hinterfragt wurden, sagte das RKI nach außen Dinge, die das glatte Gegenteil dessen waren, was intern als Erkenntnis galt. In einer Besprechung am 30. Oktober 2020 beschäftigte sich das RKI mit dem Tragen von FFP2-Masken. Im Protokoll des RKI vom 30. Oktober 2020 heißt es: „FFP2-Masken sind eine Maßnahme des Arbeitsschutzes. Wenn Personen nicht geschult/qualifiziertes Personal sind, haben FFP2-Masken bei nicht korrekter Anpassung und Benutzung keinen Mehrwert.“ Während die Maskenpflicht im Winter 2020 verschärft und die FFP2-Maske in verschiedenen Bundesländern sogar zur Pflicht wurde, kam der Krisenstab intern zu einer ganz anderen Erkenntnis: „Es gibt keine Evidenz für die Nutzung von FFP2-Masken außerhalb des Arbeitsschutzes, dies könnte auch für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.“ Davon erfährt die Öffentlichkeit allerdings erst jetzt – nachdem Multipolar geklagt hatte; das RKI hatte übrigens so massiv gegen die Veröffentlichung gemauert, dass das Gericht damit drohte, die Veröffentlichung der Protokolle ohne Schwärzung anzuordnen. Wieler war übrigens noch weiter gegangen und hatte auch das Maskentragen im Freien verlangt, im Rahmen eines legendären AHA-Plädoyers, in dem Wieler auch sagte, die Maßnahmen müssten der Standard sein, „die dürfen überhaupt nie hinterfragt werden“.

Der Einsatz von AstraZeneca wurde ebenfalls intern als fragwürdig angesehen. Am 8. Januar kommt der Krisenstab laut ZDF zu der Einschätzung, es „müsse für AstraZeneca möglicherweise Beschränkungen geben, Daten für ältere Personen seien sehr begrenzt“. Das ZDF: „Nur zwei Monate später, Anfang März, empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) den Impfstoff für alle Altersklassen und verweist auf neue Erkenntnisse aus Studien.“ Kurze Zeit später wurde der Impfstoff in Deutschland wegen einer Reihe schwerer Nebenwirkungen nicht mehr eingesetzt.

Besonders krass ist der Zusammenhang von interner Erkenntnis beim RKI einerseits und Gängelung der Bevölkerung andererseits im Fall der Impfzertifikate: Am 5. März 2021 wurde über die damals viel diskutierte Forderung gesprochen, Geimpfte und Genesene besser zu stellen als Ungeimpfte und ihnen die Befolgung bestimmter Regeln zu erlassen. Der Krisenstab vom RKI befand: Ausnahmen seien „fachlich nicht begründbar“. Außerdem befürworte die Weltgesundheitsorganisation die Zertifikate nicht, „ethische Gründe (Diskriminierung)“ sprächen gegen eine Zweiklassen-Gesellschaft: „Das Impfzertifikat soll die Erfassung von Impfwirkung, Spätfolgen etc. ermöglichen, nicht Grundlage für Kategorien und Vorrechte sein.“ Das ZDF erläutert, dass die Diskriminierung dennoch beschlossen wurde: „Mitte September 2021 wurde die 3G-Regel (geimpft, genesen, getestet) in den Katalog der besonderen Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus aufgenommen und ist mittlerweile im Infektionsschutzgesetz geregelt.“ Die Ausläufer der Gängelung sind im Übrigen bis heute zu spüren.

Ergänzend interessant zu sehen, dass „Spätfolgen“ der Impfung damals schon ein Thema gewesen sein müssen. Öffentlich haben zahlreiche Experten dagegen lange behauptet, Spätfolgen gäbe es praktisch nicht und führten diese Einschätzung als Argument an, um zögerliche Menschen zur Impfung zu bewegen.

Das Wieler-Interview mit der „Tagesschau“ zeigt, dass die Verantwortlichen des Pandemie-Managements weit davon entfernt sind, sich selbstkritisch mit möglichen Fehlern zu beschäftigen. Wie wir in den USA und Großbritannien sehen, können in einer stabilen Demokratie harte Fragen gestellt und deren Beantwortung eingefordert werden. ARD-Redakteur Georg Restle fordert die deutschen Medien auf, über die RKI-Protokolle zu berichten. Am 6. Mai verhandelt das Berliner Verwaltungsgericht die Aufhebung der umfassenden Schwärzungen in den Protokollen.

Update Montag, 25.3., 9.30 Uhr: Das ZDF hat seinen Artikel nachträglich geändert. So wird nun ohne Belege angedeutet, dass die Intervention eines geschwärzten politischen Akteurs nicht der alleinige Grund für die Hochstufung der Risikobewertung gewesen sein soll. Außerdem wurde an einer Stelle ein Fragezeichen eingeführt: „Lockdowns – fragwürdige Grundlage, schwere Konsequenzen?“ Die Versionen können hier verglichen werden: Originalversion und aktuelle Version.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de