Pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum der Festschreibung der Schulpflicht in der Weimarer Verfassung erhalten die deutschen Schulbehörden ein Geschenk vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Die Straßburger Richter hatten den Fall christlich-fundamentalistischer Eltern zu beurteilen, deren Kinder zwangsweise ins Heim gebracht wurden, um die Schulpflicht durchzusetzen. Dadurch, so das Gericht, seien die Grundrechte der Familie nicht verletzt worden. Ein Fehlurteil.
Die Schulpflicht ist zwar eine zivilisatorische Errungenschaft. Oft musste sie gegen den Willen bäuerlicher Eltern durchgesetzt werden, die ihre Kinder als Arbeitskräfte missbrauchten. In bürgerlichen und adeligen Familien hingegen war lange Zeit der Hauslehrer die Norm: Goethe wurde so erzogen.
Die Schulbehörden argumentieren, dass die Schulpflicht die Entstehung von Parallelgesellschaften verhindert. Eine problematische Begründung. Erstens, weil sie gegenüber Privatschulen einen staatlichen Alleinerziehungsanspruch begründen könnte.
Zweitens aber auch, weil Artikel 6 des Grundgesetzes festhält: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“
Im Falle der christlichen Familie konnte von Versagen oder Verwahrlosung nicht die Rede sein. Die Eltern waren auch bereit, ihre Erziehungstätigkeit durch die Schulbehörde überwachen zu lassen.
In vielen europäischen Ländern sowie in den USA ist Homeschooling erlaubt. Deutschland sollte nachziehen. Freilich sollte man Kindern die Begegnung etwa mit der Evolutionstheorie oder neuen Auffassungen der Geschlechterrollen nicht verbieten dürfen. Privatschulen unterstehen der Schulaufsicht; das muss auch für Homeschooling gelten.
Viele Kinder lernen in der Schule vermutlich nicht mehr, als sie es zu Hause täten; aber fast alle dürften dabei erheblich mehr Spaß haben. Man kann Menschen jedoch nicht zu ihrem Glück zwingen. Wie sagte Goethes Mephisto: „Sinn wird Unsinn, Wohltat Plage.“ Das gilt auch für die Schulpflicht. 100 Jahre nach der Weimarer Verfassung wäre es an der Zeit, sie zu überdenken.