Die Liebe zu Jesus Christus (9. Kapitel )

Die Liebe zu Jesus Christus (9. Kapitel )

Heiliger Alfons Maria von Liguori

Die Liebe ist nicht aufgeblasen.

Wer den Heiland liebt, erhebt sich nicht wegen seiner Vorzüge, sondern demütigt sich und freut sich, wenn er auch von anderen gedemütigt wird.

1. Der Hoffärtige gleicht einem Luftballon, der zwar groß erscheint, allein inwendig hohl und nur mit Luft gefüllt ist, die sogleich entweicht, wenn der Ballon den mindesten Riß bekommt. Wer Gott liebt, ist wahrhaftig demütig und bläht sich wegen irgendeines Vorzuges, den er an sich wahrnimmt, nicht auf, weil er erkennt, daß alles, was er hat, ein Geschenk Gottes ist, daß er aus sich selbst nichts ist und nichts sein Eigentum nennen kann als die Sünde. Wenn er daher sieht, das Gott ihm große Gnaden erwiesen hat, so ist dies für ihn ein Grund, sich noch mehr zu demütigen, weil er sich dieser Gunstbezeigungen für unwürdig achtet.

2. Die heilige Theresia sagt, wo sie von ihren besonderen Gnaden spricht: „Der liebe Gott macht es mit mir, wie man es mit einem Hause macht, das einzustürzen droht, Er hilft dem Übel durch Stützen ab.“ Wenn eine Seele einer liebreichen Heimsuchung von Gott gewürdigt wird und ein Aufflammen der göttlichen Liebe empfindet, das von Tränen oder einer großen Rührung des Herzens begleitet ist, so soll sie sich wohl in acht nehmen, zu glauben, daß ihr dies wegen irgendeines guten Werkes, das sie verrichtet hatte, widerfahre. Vielmehr soll sie sich noch mehr demütigen und fest glauben, daß Gott ihr diese Liebkosungen erweise, damit sie nicht von Ihm abfalle; denn sollte sie deshalb ein eitles Wohlgefallen fassen und meinen, Gott begünstige sie mehr als andere, weil sie Ihm besser als andere diene, so wird ihr Gott zur Strafe ganz gewiß seine Gunstbezeigungen entziehen. Um ein Haus zu erhalten, müssen vor allem zwei Dinge in gutem Zustand sein: Das Fundament und das Dach. Das Fundament hat bei uns die Demut zu sein, durch die wir von der lebendigen Überzeugung durchdrungen sind, daß wir aus uns selbst zu nichts taugen und nichts vermögen; das Dach ist aber der Schutz Gottes, in welchen wir allein unser ganzes Vertrauen setzen sollen.

3. Wenn wir uns also mehr von Gott begünstigt sehen, so ist es notwendig, daß wir uns um so mehr demütigen. Wenn die heilige Theresia eine besondere Gnade empfing, war sie sogleich bedacht, sich alle Fehler, die sie begangen hatte, vor Augen zu stellen; und so ward sie immer inniger mit Gott vereinigt. Je mehr eine Seele ihre Unwürdigkeit, Gnaden zu empfangen, bekennt, desto mehr überhäuft Gott sie mit Gnaden. Die Büßerin Thais, zuerst eine große Sünderin, und dann eine große Heilige, demütigte sich so vor Gott, daß sie sich für unwürdig hielt, auch nur seinen Namen auszusprechen, und wagte es deshalb nicht zu sagen: „Mein Gott!“ sondern sagte: „Mein Schöpfer, erbarme dich meiner!“ Der heilige Hieronymus aber sah, daß ihr wegen dieser Demut eine große Glorie im Himmel zuteil ward. Ähnliches liest man in dem Leben der heiligen Margaretha von Cortona. Als der Herr sie eines Tages mit besonderen Beweisen seiner Liebe heimsuchte, rief sie aus: „Wie, Herr, hast Du denn vergessen, was ich war? Vergiltst Du mit solchen Gnaden die Unbilden, die ich Dir zugefügt habe?“ Der Herr aber antwortete ihr, daß Er alle Beleidigungen vergesse, wenn eine Seele ihn wahrhaft liebt, und ihre früheren Sünden von ganzem Herzen bereut; wie Er dies schon durch den Mund des Propheten Ezechiel bezeugt hat:
„Wenn aber der Gottlose Buße tut... so will ich aller Missetaten, die er begangen hat, nicht mehr gedenken“ (Ez 18,21.22). Und um sie noch mehr zu versichern, ließ der Herr sie den Thron sehen, den Er ihr im Himmel mitten unter den Seraphim bereitet hatte. O möchten wir den ganzen Wert der Demut begreifen! Ein einziger Akt der Demut ist mehr wert, als alle Güter und Schätze der Welt.

4. „Glaube nicht“, sagt die heilige Theresia, „daß du auf dem Weg der Vollkommenheit etwas erreicht hast, wenn du dich nicht für den schlechtesten aller Menschen hältst und wünschst, daß du allen nachgesetzt wirst.“ Und was sie mit Worten aussprach, das übte sie auch in der Tat, und dasselbe übten alle Heiligen. Der heilige Franziskus von Assisi, die heilige Maria Magdalena von Pazzi und alle andern hielten sich für die größten Sünder in der Welt und wunderten sich nur, daß die Erde sie trage und daß sich der Boden nicht unter ihren Füßen öffne, und sie sagten es nicht bloß obenhin, sondern es war dies ihre tiefe und lebendige Überzeugung. Als der Johannes von Avila, der von frühester Jugend an ein heiliges Leben geführt hatte, dem Tode nahe war, sprach ihm der Priester, der ihm beistand, von hohen Dingen, weil er glaubte, mit einem so gelehrten und heiligen Manne auf diese Weise sprechen zu müssen. Allein der Diener Gottes sagte ihm: „Mein Vater, ich bitte Sie, meine Seele so Gott zu empfehlen, wie man die Seele eines Verbrechers, der zum Tode verurteilt ist, Gott anempfiehlt; denn ein solcher bin ich in der Tat.“ So dachten die Heiligen von sich, im Leben und im Sterben.

5. Solche Gesinnungen müssen auch wir haben, und unser Vertrauen in Gott allein setzen, wenn wir unser Heil wirken und in der Gnade Gottes verharren wollen bis an unser Ende. Der Hoffärtige vertraut auf seine eigenen Kräfte und darum fällt er; der Demütige vertraut auf Gott allein; mag er daher auch von den heftigsten Versuchungen bestürmt werden, er steht fest und fällt nicht; denn sein Wahlspruch ist: „Ich vermag alles in dem, der mich stärkt“ (Phil 4,13). Der böse Feind versucht uns bald mit der Vermessenheit und bald mit dem Kleinmut. Sagt er uns, daß wir uns vor dem Falle nicht zu furchten brauchen, so müssen wir am meisten zittern; denn wenn uns Gott nur einen Augenblick mit seiner Gnade nicht beisteht, sind wir verloren. Versucht er uns dagegen mit dem Kleinmut, so sollen wir zu Gott aufblicken und mit großem Vertrauen zu Ihm sprechen: „Auf Dich, o Herr! habe ich gehofft; ich werde in Ewigkeit nicht zuschanden werden“ (Ps 30,2). Mein Gott, auf Dich habe ich alle meine Hoffnungen gesetzt, und ich hoffe, mich niemals von Dir verlassen und im Stande deiner Ungnade zu sehen. Solche Akte des Mißtrauens auf uns selbst und des Vertrauens auf Gott müssen wir erwecken bis zu unserem letzten Atemzug und den Herrn unablässig bitten, daß Er uns die heilige Demut verleihen wolle.

6. Es genügt aber nicht, um wahrhaft demütig zu sein, eine geringe Meinung von sich selbst zu haben und sich für so elend und armselig zu erkennen, als wir es in der Tat alle sind: der wahrhaft Demütige, sagt Thomas von Kempen, verachtet sich selbst und wünscht auch von anderen verachtet zu werden. Dies ist es, was uns der Herr so sehr empfohlen und worin Er sich uns ganz besonders als Beispiel und Muster vorgestellt hat: „Lernt von mir, den ich bin sanftmütig und demütig von Herzen“ (Mt 11,29). Wer von sich sagt, daß er der größte Sünder auf Erden sei, und dann sich über andere erzürnt, die ihn verachten, beweist, daß er nur demütig mit dem Munde, aber nicht mit dem Herzen ist. Wenn einer sich verachtet sieht, sagt der heilige Thomas von Aquin, und er wird darüber unmutig, so mag er Wunder wirken, ich werde dennoch für gewiß halten, daß er von der Vollkommenheit noch sehr weit entfernt ist. Der heilige Ignatius von Loyola wurde von der allerheiligsten Jungfrau zur heiligen Maria Magdalena von Pazzi gesandt, um ihr eine Lehre über die Demut zu geben; und die Lehre, die er ihr gab, bestand darin, daß er sagte: „Die Demut ist eine Freude an allem, was uns zur Verachtung unserer selbst führt.“ Er sagte: eine Freude; denn wenn auch die Natur das Bittere der Verachtung empfindet, sollen wir uns wenigstens im Geiste darüber erfreuen.

7. Und wie sollte eine Seele, die den Heiland liebt, die Verachtung nicht lieben, wenn sie sieht, was ihr Gott in seinem bitteren Leiden auf sich genommen hat, und wie Er geduldet hat, daß sie Ihn ins Angesicht schlugen und ins Angesicht spieen: „Sie spieen in sein Angesicht, schlugen Ihn mit Fäusten und gaben Ihm Backenstreiche“ (Mt 26,67). Deshalb wollte der Herr, daß sein Bild auf den Altären aufgestellt werde, aber nicht das Bild seiner Glorie, sondern das Bild des Gekreuzigten, damit wir die Schmach, die Er für uns ertragen wollte, immer vor Augen hätten. Diesen Anblick gab den Heiligen den Mut und die Kraft, sich zu freuen, wenn sie auf dieser Welt verachtet wurden. Dieser Anblick bewog den heiligen Johannes vom Kreuz, dem Herrn, als Er ihm einst mit dem Kreuze beladen erschien und ihn fragte, was er verlange, zu antworten: „Herr, leiden und verachtet werden für Dich.“ Herr, wenn ich Dich in solcher Schmach sehe aus Liebe zu uns, was kann ich anderes von Dir verlangen, als die Gnade, zu leiden und verachtet zu werden aus Liebe zu Dir.

8. Der heilige Franz von Sales sagt: Das Ertragen der Beleidigungen und Beschimpfungen, die uns widerfahren, ist der Probierstein der Demut und der wahren Tugend. Wenn eine Person, die ein vollkommenes Leben führen will, viel betet, öfters kommuniziert, fastet und andere Bußwerke übt, aber dann eine Beleidigung oder ein verletzendes Wort nicht ertragen kann: was ist dies für ein Zeichen? Es ist ein Zeichen, daß sie ein hohles Rohr ist, daß sie keine Demut und keine wahre Tugend besitzt. Was versteht denn eine Seele, die den Heiland lieben will, unter der Liebe, wenn sie keine Verachtung zu ertragen versteht aus Liebe zu dem, der sie in solchem Übermaß für uns ertragen hat? Thomas von Kempen sagt in seinem goldenen Büchlein von der Nachfolge Christi: „Da du eine solche Scheu hast, gedemütigt zu werden, so ist dies ein Zeichen, daß du der Welt nicht abgestorben bist, daß du keine Demut besitzt, daß du Gott nicht vor Augen hast. Wer Gott nicht vor Augen hat, verliert durch jedes Wort des Tadels, das er vernimmt, die Ruhe des Herzens.“ Du kannst Schläge und Wunden nicht ertragen, ertrage wenigstens aus Liebe zu Gott ein verwundendes Wort.

9. Welchen Anstoß und welches Ärgernis gibt nicht eine Person, die öfters kommuniziert und dann bei dem geringsten beleidigenden Worte sich erzürnt. Wie erbaut uns dagegen nicht eine Seele, welche dem, der sie beleidigt, mit sanften Worten antwortet, um ihn zu besänftigen; oder auch gar nicht antwortet und sich auch bei anderen nicht beklagt, sondern ruhig und heiter bleibt, ohne die mindeste Bitterkeit zu zeigen. Der heilige Johannes Chrysostomus sagt, daß derjenige, der sanftmütig bleibt, wenn er beleidigt wird, nicht bloß für seine Seele einen großen Gewinn davon hat, sondern auch anderen nützt durch das gute Beispiel, das er ihnen gibt. „Der Sanftmütige nützt sich und anderen.“ Thomas von Kempen dagegen zählt mehrere Fälle auf, in welchen wir ganz besonders die Demut üben sollen: „Man wird auf das hören, was andere sagen, und auf das, was du sagst, wird man nicht achten. Andere werden bitten und empfangen: du wirst bitten, und deine Bitte wird dir abgeschlagen werden. Andere werden groß und angesehen sein in dem Munde der Menschen, und von dir wird man schweigen, anderen wird man dieses oder jenes Amt anvertrauen, und von dir wird man urteilen, daß du zu nichts gut bist. Mit solchen Prüfungen pflegt der Herr seine treuen Diener auf die Probe zu stellen, um zu sehen, wie sie sich zu überwinden und die Ruhe des Herzens zu bewahren wissen. Die Natur wird wohl manchmal darüber seufzen; aber du wirst einen großen Gewinn haben, wenn du alles schweigend erträgst.“

10. Die heilige Johanna von Chantal sagte: „Der wahrhaft Demütige, wenn er gedemütigt wird, demütigt sich noch mehr.“ Und dies darum, weil er niemals glaubt, so gedemütigt zu sein, wie er es verdient. Wer so gesinnt ist, wird von dem Herrn selig gepriesen. Der Herr preist nicht diejenigen selig, die von der Welt geachtet und geehrt und wegen ihrer edlen Geburt, wegen ihrer Macht oder wegen ihrer Gelehrsamkeit gefeiert werden, sondern diejenigen, welche die Welt verwünscht, verfolgt und verleumdet; denn diesen ist, wenn sie alles mit Geduld ertragen, ein großer Lohn im Himmel vorbehalten: „Selig seid ihr, wenn euch die Menschen verwünschen, verfolgen und lügend alles Böse wider euch reden, um meinetwillen. Freut euch und frohlockt, denn groß ist euer Lohn im Himmel“ (Mt 5,11.12).

11. Vorzüglich müssen wir die Demut üben, wenn wir von den Oberen und anderen wegen eines Fehlers getadelt werden. Manche gleichen in solchen Fällen den Igeln; so lange man sie nicht anrührt, scheinen sie ganz sanft und gutmütig zu sein: sobald sie aber ein Oberer oder ein Freund antastet und sie wegen eines begangenen Fehlers ermahnt, kehren sie sogleich die Stacheln hervor und antworten gereizt, die Sache verhalte sich nicht so, oder sie hätten einen gerechten Grund gehabt, so zu handeln, und sie können nicht begreifen, wie sie zu einer solchen Ermahnung kommen. Kurz, wer sie tadelt, ist ihr Feind, und sie machen es, wie unvernünftige Kranke, die dem Wundarzt zürnen, weil er ihnen bei der Heilung ihrer Wunden Schmerzen verursacht. „Sie zürnen dem, der sie heilen will“, sagt der heilige Bernhard. Und der heilige Johannes Chrysostomus sagt, daß heilige und wahrhaft demütige Personen, wenn sie zurechtgewiesen werden, über den begangenen Fehler seufzen; hoffärtige dagegen gleichfalls seufzen, aber nur deshalb, weil sie ihren Fehler entdeckt sehen und hierüber in Aufregung geraten, gereizte Antworten geben, und über den, der sie ermahnt, unwillig werden. Der heilige Philipp Neri gibt für den Fall, daß man eines Fehlers beschuldigt wird, folgende Regel: „Wer wahrhaft heilig werden will, soll sich niemals rechtfertigen, wenn auch das, was ihm zur Last gelegt wird, falsch wäre.“ Eine Ausnahme von dieser Regel ist nur dann zu machen, wenn die Rechtfertigung notwendig erscheint, um ein Ärgernis zu beheben. O welch ein Verdienst erwirbt man sich vor Gott, wenn man wegen eines Fehlers, den man nicht begangen hat, zurechtgewiesen wird und dennoch schweigt und sich nicht rechtfertigt! Die heilige Theresia sagt: „Man macht manchmal dadurch, daß man sich nicht rechtfertigt, größere Fortschritte in der Vollkommenheit, als wenn man zehn Predigten anhören würde; denn man macht dadurch den Anfang, die Freiheit des Geistes zu erlangen und sich um das Urteil der Menschen und ihr Lob oder ihren Tadel nicht zu kümmern.“

Gebet
O fleischgewordenes Wort, Du hast aus Liebe zu uns so unsägliche Beschimpfungen und Mißhandlungen erduldet: ich bitte Dich durch das Verdienst dieser Demütigungen, nimm allen Hochmut aus meinem Herzen und laß mich teilnehmen an deiner heiligen Demut. Wie sollte besonders ich über eine Beschimpfung, die mir widerfahrt, mich beklagen dürfen, nachdem ich mich so oft der Hölle schuldig gemacht habe. Ach, mein Jesus, verleihe mir durch die Verdienste aller Schmach, die Du in deinem bitteren Leiden erduldet hast, die Gnade, auf dieser Welt gedemütigt zu leben und zu sterben, gleichwie Du für mich gedemütigt leben und sterben wolltest. Ich wünsche aus Liebe zu Dir, mich von allen Menschen verachtet und verlassen zu sehen; aber ich vermag nichts ohne Dich. Ich liebe Dich, o mein höchstes Gut, ich liebe Dich, o Geliebter meiner Seele; ich liebe Dich und hoffe von Dir die Kraft, meinen Vorsatz auszuführen und alles, was über mich kommen mag, für Dich zu erdulden: Schmach, Verrat, Verfolgung, Schmerz, Trostlosigkeit, Verlassenheit. Ich will mit allem zufrieden sein, wenn ich nur von Dir nicht verlassen werde, einzige Liebe meiner Seele. Laß nicht zu, das ich jemals wieder von Dir lasse; gib mir das Verlangen, Dir auf das Vollkommenste zu dienen, gib mir Eifer in der Liebe, Frieden im Leiden, vollkommene Ergebung in allen Widerwärtigkeiten. Erbarme dich meiner, o mein Jesus, ich verdiene zwar nichts, aber ich hoffe alles von Dir, weil Du mich mit deinem kostbaren Blute erkauft hast. Ich hoffe auch alles von Deiner Fürbitte, o meine Königin und Mutter Maria, denn du bist die Zuflucht der Sünder.

Fortsetzung folgt
geringstes Rädchen