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Liebe achtet Grenzen - Gedanken über wahre und falsche Barmherzigkeit

Liebe achtet Grenzen - Gedanken über wahre und falsche Barmherzigkeit

Es gibt keinen Grund, das Offensichtliche nur zögernd aussprechen: dass es kein Zufall ist, dass freiheitliche Werte sich in jenen Ländern ausbreiten konnten, in denen das christliche Menschenbild vorherrschte. Gastkommentar von Dr. Johannes Hartl
Augsburg (kath.net) „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist grausam. Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung“, so Thomas von Aquin vor rund 800 Jahren in einem Satz, der aktueller nicht klingen könnte. Beim ersten Teilsatz würde wohl kaum einer widersprechen, doch die zweite Aussage geht ein wenig zögerlicher von den Lippen. Denn dies ist nicht nur ein Jahr der Barmherzigkeit, sondern auch eine Epoche, in der die Sehnsucht nach bedingungsloser Annahme größer scheint denn je. Und eine, in der Grenzen nicht gerade unverdächtig sind. Wir brauchen Brücken zwischen den Völkern und keine Mauern, so würde wohl jeder zustimmen. „Grenzschließung“, das klingt nach Abschottung, nach irrationalen Ängsten, nach Schießbefehl gar. Wie ein Rückfall in den Kalten Krieg. Jedenfalls nicht zeitgemäß. Denn das Zeitgemäße, so könnte man vereinfacht sagen, scheint die Öffnung zu sein. Und das sowohl in Staat als auch in Kirche: bedingungsloses Grundeinkommen für alle, Ehe für alle, die Kommunion für alle und eben auch Asyl für alle.

Die große Furcht dieser Zeit deshalb: irgendjemanden auszu-grenzen, irgendjemanden zu diskriminieren. Hashtag #ausnahmslos! Diskriminieren freilich bedeutet zunächst „unterscheiden“. Die Unterscheidung ist die Grundleistung menschlicher Ratio. Und Grenzen sind besser als ihr Ruf.

„Volo ut sis“, das ist nach Augustinus das Wesen der Liebe: ich will, dass du bist. Diese Herzenshaltung entspricht der tiefsten Grundsehnsucht des Menschen. Und deshalb sehnen wir uns nach Liebe. „Grundmotivation“ nennt die Existenzanalyse die fundamentale Bedeutung der Frage „darf ich sein?“ für jeden Menschen. Die Liebe antwortet darauf: du darfst sein. Christen glauben, dass Menschen nicht zufällig sosehr auf Liebe hingeordnet sind und ohne sie nicht leben können. Gott selbst ist die Liebe und weil sein Schöpfungshandeln seinem reinen und freien Ja entspringt, findet das Geschöpf seinen Sinn auch nur in der freiwilligen Annahme dieser Liebe des Schöpfers. Jede menschliche Sehnsucht nach Annahme und Liebe entspringen der grundsätzlich Hinordnung des Menschen auf das göttliche Gegenüber. Allein in der Beziehung mit ihm findet er Erfüllung.
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Die Sehnsucht nach bedingungsloser Annahme kennt wohl jeder Mensch. Nicht jedem Menschen jedoch bewusst ist die Tatsache, dass es im eigenen Leben stets jede Menge Dinge gibt, die nicht gut und auch nicht der Annahme wert sind. Leichter fällt das im Blick auf Andere: niemand, der Kinder hat und diese auch liebt, würde schlussfolgern, dass jede Eigenschaft und jedes Verhalten eines Kindes grundsätzlich förderungswert wäre. Noch leichter fällt diese Erkenntnis bei der Beobachtung der Kinder Anderer. Auch guten Freunden und Verwandten, die man liebt, würde man wohl kaum attestieren, in jeder Eigenschaft so zu sein, dass jedes Detail davon allgemeine Billigung verdient.

„Bleib so wie du bist“, ist wohl ein netter Glückwunsch zum Geburtstag. Doch je besser man einen Menschen kennt, desto mehr kennt man auch Bereich des Lebens, in denen Weiterentwicklung und Veränderung tatsächlich angebracht wären. „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott“, entgegnet Jesus dem freundlichen Zeitgenossen, der ihn als „guten Meister“ anspricht (Mk 10,18).

Hieße Liebe also, alles gut zu nennen? Niemals zu unterscheiden, sondern alles immer annehmen, grenzenlos?

Nun, was Liebe ihrem Wesen nach ist, ist für einen Christen kein Gegenstand von Beliebigkeit. Gott ist die Liebe. Und wie Gott ist, das wird ultimativ und unüberbietbar sichtbar an Jesus. Jesus erscheint in den Evangelien tatsächlich als der „barmherzige Jesus“. Zu Recht beruft mancher sich auf ihn, der von Christen die Grundhaltung bedingungsloser Annahme einfordert. Folgen sie doch dem, dem man vorwarf, die Sünder anzunehmen und gar mit ihnen zu essen (Lk 15,1). Doch ehe das Wort von der „Frohbotschaft statt Drohbotschaft“ zu sehr strapaziert wird, möge man ebenso sehen, wie deutlich Jesus mit Sünde ins Gericht geht. Das „auch ich verurteile dich nicht“ steht eben im direkten Zusammenhang zum „geh und sündige nicht mehr“ (Joh 8,11). Ja, der liebe Herr Jesus spricht so richtig viel über die Sünde, er ruft zu radikalen Schritten der Umkehr auf und spricht mehr über die Hölle, als alle anderen biblischen Figuren und Autoren zusammen.

Dass das nicht lieblos ist, liegt eigentlich auf der Hand. Gerade am Beispiel mit den Kindern wird deutlich: es ist größere Liebe darin, dem Kind eben nicht alles durchgehen zu lassen. „Kinder brauchen Grenzen“ heißt ein Buch von Jan-Uwe Rogge, das beinahe schon ein Klassiker der pädagogischen Ratgeber zu nennen ist. Und es ist sicherlich liebevoller, einem Freund auch einmal ein Wort der Korrektur zu sagen, das ihm langfristig dient, als in einer feigen Vermeidung des Konfrontativen. Jesus jedenfalls hat durchwegs auf genau diese Weise geliebt. Und Paulus zitiert zwar ebenso Jesus im „richtet nicht!“, betont aber an etlichen Stellen die Verpflichtung, Unrecht und Sünde klar zu benennen und Konsequenzen daraus zu ziehen.

Es gibt eben doch Grenzen.

Erstaunlich ist die Rhetorik der Liebe in dieser Zeit. Es folge einem Imperativ der Nächstenliebe, die Grenzen eines Landes unkontrolliert zu öffnen. Und weil Jesus ja ein „Liebhaber“ und kein „Rechthaber“ gewesen sei, könne es kein Werk des Geistes Jesu sein, wenn entgegen dem religiösen Mainstream bekräftigt werde, dass Jesus der einzige Weg und nicht nur einer unter vielen sei. Oder dass die Nachfolge Jesu eben doch ganz konkrete Folgerungen für den Umgang mit Ehe, Sexualität und Familie hat.

„Das vielleicht am meisten missbrauchte Wort der Moderne“ nannte Bischof Stefan Oster kürzlich die Liebe. Umso wichtiger ist es für Christen, zu klären, was die Liebe denn biblisch bedeutet. Inmitten des bei Hochzeiten beliebten Lesungstextes des „Hohenlieds der Liebe“ von Paulus findet sich die staunenswerte Aussage „die Liebe freut sich an der Wahrheit“ (1 Kor 13,6).

Was bedeutet dieser Satz? Da ist zunächst die Sehnsucht im Herzen des Menschen, in Wahrheit, genau so wie man ist, geliebt und angenommen zu werden. Da gibt es aber auch den verklärten Blick der Verliebten, der Aspekte am Gegenüber auf vielleicht sogar bedrohliche Weise ausblendet. Nicht alles, was sich euphorisch altruistisch anfühlt, ist also tatsächlich Liebe. Denn diese freut sich an der Wahrheit. Und die Wahrheit ist immer eine. Die ganze Wahrheit über den geliebten Menschen und die eigene Wahrheit: nichts davon wird ausgeblendet, sie lügt nicht aus lauter Angst, vielleicht vor den Kopf zu stoßen.

Kitsch, das ist die Schönheit der das Korrektiv der Wahrheit fehlt, so könnte man einen Gedanken Hans Urs von Balthasars umschreiben. Ließe sich für die Liebe nicht Ähnliches sagen? Liebe, der die Wahrheit fehlt, ist bloße Sentimentalität. Auf sie lässt sich keine Ehe bauen. Und erst recht kein Staat: Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung. Und ein Staat, der altruistischer Wohlfahrtsstaat sein will, muss über seine Grenzen sprechen oder wird sich auflösen.

Wenn die Liebe will, dass der andere ist und sich zugleich an der Wahrheit freut, dann will sie nicht nur sein kurzfristiges Wohlfühlen. Sondern sie erstrebt sein langfristig Bestes. In einer gefallenen und vom Übel durchzogenen Welt bedeutet dies jedoch immer, das Gute zu fördern und das Böse zu bekämpfen. Tatsächlich wäre es keine Liebe, die das Kind liebt und gleichzeitig nichts einzuwenden hätte gegen den Kriminellen, der das Leben des Kindes bedroht. Die Liebe zeigt sich eben auch in der Feindschaft gegen das, was das Geliebte zerstören will. Unpopuläre Wahrheit in einer Zeit des Pazifismus. (Wobei zu fragen wäre, ob es tatsächlich der Pazifismus oder nicht eher Feigheit ist, der die Mehrheit in einer Umfrage konstatieren lässt, selbst keinesfalls zum Dienst an der Waffe bereit zu sein und gleichzeitig der Aussage zustimmt, im Falle eines Angriffskriegs gegen Deutschland sollten die USA eingreifen.)

Weil die Liebe das langfristig Beste will, kann sie nicht alles bejahen. Auf die Politik angewendet: eine Grenze zu öffnen ist immer einfacher als das langfristig zu sichern, was sich als Wert hinter ihr verbirgt. Nur wo das geschieht, wird sowohl dem geholfen, der jenseits der Grenze lebt als auch dem, der ebendort Zuflucht sucht, weil es dort etwas Erstrebenswertes gibt.

Das erstrebenswerteste Gut des Westens ist seine Freiheit. Der Rechtsstaat sichert sie, der materielle und kulturelle Reichtum entspringen ihr. Es muss einer selten genug außerhalb des Westens gereist und spät genug nach Nationalsozialismus und Kommunismus geboren sein, um zu vergessen, was es zu verteidigen gilt. Der Verfasser befindet sich während des Schreibens dieser Zeilen im Flugzeug über Teheran. Es gibt keinen Grund für die Zögerlichkeit, mit der Europäer und Amerikaner das Offensichtliche aussprechen: dass es nunmal kein glücklicher Zufall ist, dass freiheitliche Werte sich in jenen Ländern ausbreiten konnten, in denen das christliche Menschenbild vorherrschte. Und dass der kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Vorsprung des Westens auf eine ideologische Grundlage aufbaute, die maßgeblich von der Bibel geprägt bleibt. Freilich: demokratische Ideen gab es auch im antiken Griechenland. Dort setzten sie sich aber nicht dauerhaft durch. Und bevor die westlichen Werte als Errungenschaften der Aufklärung gefeiert werden, wäre zu bedenken, in welchem gedanklichen Klima eine Aufklärung überhaupt erst möglich war. Dass diese reichlich institutions- und religionskritische Gedanken mit sich brachte, liegt auf der Hand. Dass die kritisierten Institutionen und Kirchen aber nicht dafür sorgten, dass die Vordenker geköpft und die Protestierenden niedergeschossen werden, sondern die Bewegung wachsen konnte, ist wiederum weltweit betrachtet die Ausnahme von der Regel.

„Die Liebe sucht nicht das Ihre“, zitiert Bernhard von Clairvaux das Hohelied der Liebe in seinem Brief an den Papst. Und er fährt fort: „…weil sie es hat.“ Er ermahnt den jüngeren Mönch auf dem Stuhle Petri, nicht großzügiger sein zu wollen als der Herr selbst. Ein jeder Mensch sei nur Sammelbecken, nicht die Quelle selbst. Er habe auch Sorge zu tragen, selbst gefüllt zu sein, sonst würde er bald auch seine Fähigkeit verlieren, anderen zu helfen. Das Becken fließt nicht grenzenlos wie die Quelle. Seine Kapazität hat eine Grenze. Diese einzugestehen ist kein Mangel an Großzügigkeit, sondern schlicht Kennzeichen der realistischen Selbsteinschätzung.

Mehr noch als das. Wenn die Liebe die Wahrheit liebt, dann mutet sie sie auch dem anderen zu. „Ich liebe dich sosehr, dass dich nicht einmal die Wahrheit irritieren sollte“, ist abermals Aussage sentimentaler Verklärung, aber nicht der wahren Liebe. Jede gesunde Beziehung besteht aus zwei Partnern, die jeweils um die eigenen und die Grenzen des anderen wissen. Tiefsinnige theologische Reflexion, dass die drei Personen der göttlichen Trinität eben nicht ineinander übergehen, sondern in ihren Personen ganz sie selbst bleiben. Umgrenzt. Und genau deshalb sich aber vollständig aneinander verschenken können, sodass wahre Einheit entsteht. Das ist das Urbild aller Beziehung zwischen Menschen, die im Abbild des dreifaltigen Gottes erschaffen sind. Ich weiß wer ich bin. Und du weißt wer du bist. Ich mute dir meine und du mir deine Wahrheit zu. Indem ich dich nicht von der Wahrheit dispensiere, behandle ich dich als vollwertigen Partner. Und Teil der Wahrheit sind auch deine und meine Grenzen. Nur wo wir sie wechselseitig kennen, einander mitteilen und sie achten, kann Beziehung langfristig gelingen.

Was im unmittelbar Zwischenmenschlichen offenkundig ist, gilt kein bisschen weniger für einen ganzen Staat. Ist er doch ein komplexes System von menschlichen Beziehungen. Wo menschliches Leben gelingt, dort gibt es und braucht es auch Grenzen. Und nur eine Grenze, die verteidigt wird, ist eine Grenze.

Tatsächlich wäre die Aussage möglich: wo es menschliches Leben gibt, da gibt es grundsätzlich immer Grenzen. Die Frage ist nur, ob ihr Verlauf transparent ist. Auch hier ist der Gestus der Grenzöffnung trügerisch. Auch wenn die territoriale Grenze geöffnet ist, bestehen in einer Gesellschaft dennoch viele unsichtbare Grenzen. Wirklich sinnvolle und nachhaltige Integration hieße, Neuankömmlingen nicht nur in einer spontane Willkommensgeste die Landesgrenze zu öffnen, sondern sie zu lehren, Grenzen zu erkennen und zu achten. Es gibt innerhalb eines Landes eben doch noch ganz klare Grenzen. Wer dies bezweifelt, der informiere sich über die skurril hohe Anzahl juristischer Verfahren wegen Grundstücksgrenzen zwischen Nachbarn. Es gibt genau geregelte Grenzen im zwischenmenschlichen Umgang, etwa darüber wieviel körperliche Nähe zwischen Fremden in einem Alltagsgespräch normal ist. Grenzen allgemein im Umgang zwischen den Geschlechtern. Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem und so weiter.

Nur durch die Kenntnis dieser Grenzen und den verantwortungsvollen Umgang damit wird man volles Mitglied einer Gesellschaft.

All dies lässt sich zusammenfassen in dem Satz: Liebe achtet Grenzen und mutet dem Anderen auch die Wahrheit zu.

Ein Letztes. Verstörendes war in den letzten Monaten von Vertretern mancher evangelischer Landeskirchen zu hören. Es könne und dürfe keineswegs das Ziel sein, Muslime in Deutschland zu missionieren. Es sei geradezu unmenschlich, einem Flüchtling, der alles verloren hat, auch noch seine Religion nehmen zu wollen. Hinter der scheinbar humanitären Aussage steht ein tiefes Missverständnis. Einen Menschen von Herzen anzunehmen, bedeutet keineswegs, bezüglich seiner Überzeugungen oder auch seiner religiösen Prägung eine indifferente Haltung einzunehmen. Wer einem anderen die Wahrheit nicht zumuten möchte, von der er selbst überzeugt ist, der ist wohl selbst nicht recht überzeugt. Wer mit Mission nur Kulturimperialismus und Zwang verbindet, der hat vergessen, was der Westen dem Christentum zu verdanken hat. Und wahrscheinlich hat er ein verklärtes Bild von nichtchristlichen Kulturen.

Wenn Liebe die Wahrheit liebt und dem anderen die Wahrheit zumutet, dann gibt es keine christliche Nächstenliebe ohne Evangelisation. Es kann für einen Christen niemals genügen, einem Menschen Nahrung, Sicherheit und persönliches Wohlergehen zu wünschen. Ein Christ wird immer ersehnen, dass der andere den größten Schatz entdeckt: die Bekanntschaft mit Christus, das Evangelium. Er wird dieses im Idealfall demütig und ohne kulturelle Überheblichkeit bezeugen, niemals aber auf Kosten der Klarheit. Während alle Kulturen voll der guten und erhabenen Elemente sind, die Respekt verdienen, sind die grundsätzlichen Ideen und Glaubenssätze, auf die sie gegründet sind, niemals nur neutral.

Auch hier ist es Eigenschaft der Liebe, Grenzen zu achten und sie aufzuzeigen.

In Zeiten der Grenzöffnung und der Sehnsucht nach Barmherzigkeit ist liebevolle Klarheit das Gebot der Stunde. Gnade und Wahrheit gehören zusammen (vgl. Joh 1,14). Die Kirche sollte sich keinen Versuch gefallen lassen, diese gegen jene auszuspielen.