Besuche aus einer anderen Welt: Offenbarungen an Fulla Horak (Kapitel 2)

2. Kapitel

„Suchet, so werdet ihr finden...“ (Lk 11, 9)

Im selben Jahr wurde ich schwer krank und dachte sogar an die Möglichkeit des Todes. Ich konnte dennoch die Mauer, die mich von Gott trennte, nicht einreißen.

Wieder gesund geworden, hörte ich auf, ständig auf jede Regung in mir zu achten. Ich sah ein, daß so ein Ringen mit sich selbst zu nichts führt und begann, wieder normal am Leben teilzunehmen.

Nach und nach kehrte dann auch meine Begeisterung für das Musikstudium zurück. Tonleitern und Passagen beruhigten meine Nerven. Ich suchte in der Musik nicht mehr das, was sie mir nicht geben konnte, ich empfand sie nun als Wohltat für mein Gehör, weniger für meine Seele.

Ich begann auch, wieder mehr unter Menschen zu gehen. Ich hoffte, mich selbst zwischen den anderen zu verlieren oder mich zumindest zwingen zu können, ihren Alltag mitzuerleben.

Ich bemühte mich redlich, nach außen die Anzeichen von Sorglosigkeit zu zeigen, die ich meistens bei Leuten beobachtete, die „das Leben leicht nehmen“. Ich nahm an, daß, wenn ich mir nur diese äußeren Anzeichen aneigne, der ihnen normalerweise vorausgehende Zustand automatisch in mir entstehen würde. Unzählige Stunden habe ich mit dem Hören von Jazzmusik in Bars und Cafés verbracht! Meine Augen haben unzählige Filme gesehen! Es gab den Strand, es gab Ferienheime, Lokale, Konditoreien, Theater ... Innerlich war ich jedoch weiterhin einsam, und vielleicht hat sich aus diesem Grunde die Beobachtungsgabe besonders stark in mir entwickelt. Darüber hinaus war es leicht für mich, in fremden Seelen herumzuwirtschaften, weil die Menschen sich mir gerne anvertrauten. Mit der Zeit brachte ich es fertig, ein wenig mehr Nachsicht ihnen gegenüber zu empfinden und den Haß, der früher in meinen Blicken und Worten war, in Humor umzuwandeln.

Ich konnte damals auch aus der Nähe beobachten, wie die Menschen die Liebe erleben. Wie sie sich freiwillig eine rosarote Brille aufsetzten und in diesem halbbewußten, künstlichen Rauschzustand verharrten. Es wunderte mich, daß ein Mensch voller Fehler und Eigenarten das Herz und die Gedanken eines anderen so ganz einnehmen kann. Worum ging es ihnen eigentlich? Wozu brauchten sie diese gegenseitige schweigende Abmachung: „Ich belüge dich und du mich ... ?“ Was hatten sie nur davon? Einen kurzen, mehr oder minder starken Glücksrausch, viele Sorgen, viel Qual und immer wieder Enttäuschungen. Ich konnte nicht begreifen, warum sie, aus Erfahrung nicht klug geworden, sich immer wieder darauf einließen und dabei zwangsläufig ihren einzigen Reichtum, das Herz, nach und nach in immer wieder neuen Gefühlen aufreiben mußten.

Ich schaute mich aufmerksam um, ob ich unter ihnen wohl einen finde, der satt ist. Ich fand nur Unbefriedigte und Übersättigte. Ich selbst blieb dabei hungrig, denn nach dieser Kost wollte ich niemals greifen. Allzu deutlich spürte ich, daß es noch eine andere geben muß. Ich wußte nur nicht, wer den Schlüssel zu dem Speicher besitzt, in dem diese wirkliche Nahrung wartet. Die, die auf mich zukamen und sich nach bestem Willen um mich bemühten, besaßen ihn nicht ... ihre Gefühle erschienen mir wie eine Parodie dessen, auf das ich standhaft wartete und das ich nicht einmal vor mir selbst hätte beim Namen nennen können.

Ein Mensch konnte es nicht sein! Ein Mensch, auch wenn er noch so vollkommen ist, stellt im Grunde nicht viel mehr dar als ein anderer.

Der Mensch — als Ideal — existierte für mich nicht. Er war nur ein Geschöpf, also mußte die Macht, die ihn erschaffen hat, größer, vollkommener sein. Mich interessierte nicht die Maschine, sondern ihr Erfinder! Wo war er? Wie konnte er den von ihm geschaffenen Mechanismus ohne Wartung und Aufsicht zurücklassen? Ich lauerte sozusagen auf den Zeitpunkt, an dem er sich neben seinem Werk zeigte. Ich hatte Angst, diesen Moment zu verpassen, und wollte meine Aufmerksamkeit deshalb nicht mit Unwichtigem ablenken. Eines weiß ich genau: Die Gewißheit, mein ganzes Leben lang umsonst gewartet zu haben, hätte ich leichter ertragen können als den Gedanken, daß mir seine Gegenwart entgangen sein könnte.

Aus diesem Grunde wollte ich mich auch niemals an einen Menschen binden. Ich fühlte mich gebunden an etwas, das — obwohl unbekannt, ungenannt und fremd — mich verpflichtete.

Ich konnte nicht verstehen, daß die Menschen so leben können, wie sie leben. Daß sie damit zufrieden sind. Es war doch nicht einer von ihnen wirklich glücklich! Warum, wo sie doch wußten, daß dies nicht die Erfüllung ist, nahmen sie es als Erfüllung?

In dieser Zeit hatte ich Kontakt zu Menschen, die spiritistische Sitzungen veranstalteten. Vergeblich habe ich auf eine Sensation gehofft. Da wackelten die Tische, klopften Namen und Zahlen aus, ab und zu auch ein häßliches Wort ... Das Medium schlief ein, es war lange dunkel, dann spürte irgend jemand irgend etwas, behauptete manchmal, etwas zu sehen ... Ich habe niemals etwas gesehen oder gespürt, außer, daß diese Versuche wie ein Umherirren in einer dunklen Sackgasse waren und zu nichts führten. Also ließ ich die Seancen sein und wunderte mich, daß die Menschen nicht aufhörten, sich etwas davon zu erhoffen.

Dann begann ich Bergwanderungen zu unternehmen. Eine Weile kam es mir vor, als könnte ich in der gewaltigen, bedrohlichen Strenge der Bergwelt endlich Frieden und Ruhe finden, als käme ich einer wunderbaren, geheimnisvollen Wahrheit immer näher und näher.

Als ich dann aber wieder hinabstieg und zu den Menschen kam, verflogen diese Eindrücke schnell wieder. Die Wahrheit war hier auch nirgends zu finden! Es gab Gewohnheiten, Täuschungen, Heuchelei ... Ich lernte junge Menschen kennen, die sonntags eifrig zur Kirche gingen und von denen ich wußte, daß ihr Alltagsleben wohl noch weiter von Gott entfernt war und ihn noch mehr beleidigte als das meine. Es bereitete mir ein bösartiges und schmerzliches Vergnügen, diese Damen in religiöse Gespräche zu ziehen. Wie schwach und empfindlich war der Glaube in ihren freigiebigen, heißen Herzen! Wie leicht ließen sich seine zarten Wurzeln ausheben. Für gewöhnlich kam man ohne gewichtige Argumente aus. Ein überlegenes Lächeln, spöttische Nachsicht, manchmal nur ein Scherz oder ein ironisches Anheben der Brauen — es reichte aus, daß sie sich, erschrocken und beschämt über ihren Mangel an Standhaftigkeit, auf der ganzen Linie zurückzogen. Es tat mir weh und freute mich zugleich. Wenn doch die Leute wenigstens den Mut hätten zu bekennen, daß sie nicht glauben! Was soll dieses unwürdige, ängstliche Getue? Was soll dieses Sichverstecken hinter Äußerlichkeiten und Normen? Vor wem? Für wen?

In dieser Zeit kam in mir der Gedanke an Selbstmord auf, immer häufiger, immer deutlicher, aus der Tiefe meines Wesens. Es war nicht nur Verzweiflung, die mir diesen Ausweg zuflüsterte. Vielmehr war es Überdruß, Widerwille, etwas, das man fast mit Logik bezeichnen könnte. Ich prüfte diese Möglichkeit kühl, sachlich, so wie man als rational denkender Mensch über die Berufswahl nachdenkt. Ich erinnere mich noch, wie ich listige Berechnungen anstellte: Falls „dort“ nur „das Nichts“ ist — würde ich es sowieso nie erfahren. Falls es aber wirklich ein „Alles“ gibt, wäre ich alle meine Zweifel los. Ich wüßte endlich die Wahrheit!

Im Herbst hörte ich, wie jemand von dem Wunder in Tschenstochau erzählte. Damals sagte ich mir: Wenn die Menschen von diesem Bild Gnade empfangen und diese sich segensreich auf ihre Gesundheit oder materielle Dinge auswirkt, warum sollte ich nicht versuchen, dort um Licht für meine Seele zu bitten? Obwohl ich nicht gläubig war, entschloß ich mich, alle nur möglichen empfohlenen Mittel auszuschöpfen, damit ich mir später nichts vorzuwerfen hatte und um mir selbst den Beweis für meinen guten Willen zu erbringen.

Die Fanfaren bei der Enthüllung des Bildes, die betende Menge, das schwarze Gesicht über dem Altar — all das machte auf mich nicht den geringsten Eindruck. Die Bekenntnisse erschienen mir wie geschmacklose Reklamesprüche und der von der Kanzel mahnende Priester heuchlerisch. Ich war entsetzt über das absolute Fehlen jeglicher Gemütsregung in mir.

Und da stellte ich der Mutter Gottes ein Ultimatum — kühl, sachlich und klar: Wenn ich in den nächsten drei Monaten — einfach so, ohne Wunder, ohne Erschütterungen, ohne daß irgendwas Ungewöhnliches geschehen sollte, den Glauben und die innere Gewißheit erlangte, daß Gott existiert — wollte ich geloben, dem Himmel bis an mein Lebensende zu dienen. Gleichzeitig beschloß ich, diese drei Monate lang täglich das Gebet zu sprechen: „Gedenke, o gütigste Jungfrau Maria ...“ und alles zu tun, was den Vorschriften der katholischen Kirche entspricht.

In Lemberg ging ich dann zur Beichte mit demselben guten Willen, wenn auch ohne Glauben, und schilderte dem Priester wahrheitsgetreu meine inneren Konflikte. Ungeachtet dessen erlaubte er mir, die hl. Kommunion zu empfangen.

Nach drei Monaten, in denen ich alle Bedingungen dieses einseitigen Vertrages eingehalten hatte, veränderte sich jedoch nichts. Ich stand weiterhin vor einer Leere und war beladen mit Fragen und Problemen. Entmutigt versuchte ich nicht einmal mehr, sie zu formulieren. Wozu? Wenn sich doch sowieso niemand um eine Antwort scherte.

Aus der Zeit dieses Versuchs von Jasna Gora ist mir nur das vom Beichtvater empfohlene kurze Gebet geblieben, das ich täglich halb bewußt wiederholte: „Gott! Wenn es dich gibt, schenke mir Licht!“

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Quelle:

ppio.de