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Kinder der Landstrasse

«KINDER DER LANDSTRASSE»:Esther sucht nach ihren Brüdern: «Pro Juventute hat sie entführt»

Die Familie von Esther Gemperle wurde von der halbstaatlichen Stiftung Pro Juventute auseinandergerissen. Sie sucht noch immer nach ihren zwei verschwundenen Brüdern.Daniel Krähenbühl

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Jean Francois und Esther Gemperle.
20min/dk


Esther ist noch immer auf der Suche nach ihren zwei verschwundenen Brüdern.
20min/dk


Der Mutter von Esther Gemperle wurden mehrere Kinder weggenommen.
Privat

Die Familie Gemperle.
Privat

Darum gehts

Esther Gemperle wurde als Kind ihren Eltern entrissen.
Auch ihre Brüder wurden zunächst in ein Heim und dann zu Pflegeeltern gebracht.
Zwei Brüder bleiben noch heute unauffindbar.
Die Mutter von Esther Gemperle wünscht sich, ihre Söhne vor ihrem Tod noch einmal zu sehen.

Im Juni 1979 läuft die zehnjährige Esther Gemperle in Altstätten SG von der Primarschule nach Hause. Als sie sich beim Quartierkiosk einen Kaugummi für fünf Rappen kauft, naht ein Auto heran. Zwei Beamte steigen aus, türmen sich vor ihr auf und packen sie am Arm. «Du kommst jetzt mit», sagt der Mann unfreundlich.

«Der Mann und die Frau – Mitarbeitende der halbstaatlichen Stiftung Pro Juventute – fuhren mich weinend ins St. Galler Rheintal nach Marbach – in ein Heim für geistig behinderte Kinder», sagt Esther Gemperle heute auf ihrem Winterquartier-Standplatz in Birmensdorf ZH. Die Behörden hätten ihre Eltern im Dunkeln gelassen. «Mein Vater und meine Mutter gingen vom Schlimmsten aus.»

Bei Pflegefamilien untergekommen

Wieso sie verschleppt wurde, habe sie erst später erfahren, so Gemperle. «Ich geriet ins Fadenkreuz der Pro Juventute, weil ich Jenische bin und in einer fahrenden Familie aufwuchs.» In den 60er- und 70er-Jahren habe das bereits gereicht (siehe Box). «Man wollte mich von einer Jenischen zu einer ‹sesshaften, guten Schweizerin› machen.»

Wie der Ostschweizerische Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst in seinen Unterlagen, die 20 Minuten vorliegen, schreibt, kam schliesslich eine Praktikantin zum Schluss, dass Esther nicht ins Kinderheim, sondern in eine Familie gehöre. «Mehrere Pflegefamilien gaben mich aber wieder weg, sobald sie erfuhren, dass ich eine Jenische bin. Was ich dort – aber auch bei den ärztlichen ‹Untersuchungen› – erlebt habe, ist grauenhaft», sagt Gemperle.

Suche nach zwei Brüdern

Noch heute seien die Vorurteile gegenüber den Jenischen gross. «Damals war es aber viel schlimmer – wir wurden als Untermenschen wahrgenommen.» Das zeigt sich auch in einem Schreiben der Sozialberatung der Gemeinde Flawil SG. Der Verantwortliche schreibt darin: «Esther ist geistig doch erheblich zurückgeblieben und vermutlich auch erblich stark belastet. Sie stammt aus einer ‹jenischen› Familie und hat gewisse Eigenschaften offenbar in die Wiege mitbekommen.»

Nicht nur sie, ihre ganze Familie geriet in die Fänge der Pro Juventute, sagt Gemperle. «Meine drei jüngeren Brüder – die 1971 geborenen Zwillinge Mario und René sowie der 1973 geborene Roger – wurden ebenfalls fremdplatziert.» Mario habe sich 1995 schliesslich das Leben genommen, die anderen zwei Brüder sind noch heute verschwunden. «Meine 96-jährige Mutter spricht nur noch von den beiden – sie sagt, sie könne nicht sterben, bevor sie sie nicht in die Arme schliessen konnte.»

Die Familie Gemperle hat mittlerweile beim Bundesarchiv um Akteneinsicht in die Unterlagen der Bestände «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» gebeten. Derzeit erhalten nur Direktbetroffene Zugang zu den Unterlagen, für Drittpersonen gilt eine Schutzfrist von 100 Jahren.