Sonia Chrisye
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CICERO - Ein Demokrat, der die Demokratie falsch versteht

FRANK-WALTER STEINMEIER
- Ein Demokrat, der die Demokratie falsch versteht
VON ALEXANDER GRAU am 26. März 2017 - Kolumne
Grauzone: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier - hat die Deutschen in seiner Antrittsrede zu mehr Mut aufgerufen und davor gewarnt, allzu einfache Antworten auf komplexe Fragen zu suchen. Doch etwas anderes wäre viel wichtiger.
Antrittsreden frisch vereidigter Bundespräsidenten sind selten Glanzlichter der politischen Rhetorik. Dafür ist der Anlass zu formal und das Amt zu sehr auf Ausgleich und Moderation angelegt. Dennoch sind solche Reden spannende historische Dokumente. Sie geben einen Eindruck davon, wie sich die Selbstwahrnehmung in unserem Land verändert hat.

Es ist noch keine sieben Jahre her, als der frisch vereidigte Bundespräsident Christian Wulff feststellte, dass wir Deutschen „in einer gefestigten, in einer selbstbewusst gelassenen Demokratie“ leben. Wie anders klang am vergangenen Mittwoch sein Nach-Nachfolger Frank-Walter Steinmeier. Von Gelassenheit keine Spur. Und das zur Schau getragene Selbstbewusstsein hatte eher etwas vom Pfeifen im Walde.

Die Zeiten haben sich geändert
Wo sein Vorgänger Wulff noch langatmig das verklärte Bild eines bunten, globalisierten und zukunftsfrohen Deutschlands gezeichnet hatte, schaltete Steinmeier in den rhetorischen Krisenmodus. „Wir müssen über die Demokratie nicht nur reden – wir müssen wieder lernen, für sie zu streiten“, mahnte der neue Bundespräsident und warnte vor einer „schleichenden Erosion“ der Demokratie durch Gleichgültigkeit und Überdruss.

Was für ein bemerkenswerter Kontrast. Sah sich Christian Wulff im Juli 2010 noch als Teil einer immerwährenden Fortschrittsgeschichte auf dem Weg in eine heitere Zukunft, so mahnte Steinmeier, dass wir in Zeiten leben, in denen „alte Gewissheiten“ verschwunden sind und Demokratie „weder selbstverständlich noch mit Ewigkeitsgarantie ausgestattet ist“.

Das klang banal und war es wohl auch. Es zeigt jedoch, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Was umso bemerkenswerter ist, als sich im Grunde ja gar nichts geändert hat. Objektiv gesehen, geht es den Deutschen heute nicht schlechter als vor sieben Jahren, im Gegenteil. Doch die Gemütslage ist eine andere. Orientierungslosigkeit macht sich breit. Die Situation ist unübersichtlich. Liebgewordene Denkschablonen helfen nicht mehr weiter. Ein Riss geht durch die Gesellschaft. Vermutlich sind es sogar mehrere Risse. Verunsicherung greift um sich.

Nur in Diktaturen muss man mutig sein
In einer solchen Situation gibt Politik zwangsläufig ein unglückliches Bild ab. Denn die Mittel, die ihr zur Verfügung stehen, sind kaum geeignet, gefühlte Irritationen zu beseitigen. Politische Akteure sind, zumal in komplexen Gesellschaften, damit überfordert, Sicherheit zu simulieren oder gar herbeizuführen – auch wenn Martin Schulz das Gegenteil behauptet.

Frank-Walter Steinmeier ahnte dies wohl. Also rief er zum Mut auf. Denn „Mut ist das Lebenselixier der Demokratie“. Das war gut gemeint, aber mindestens ebenso verräterisch. Immerhin könnte man mit ebenso gutem Recht das Gegenteil behaupten. Denn Demokratie, so könnte man argumentieren, rechtfertigt sich dadurch, dass niemand mutig zu sein braucht. In einer funktionierenden Demokratie braucht es keinen Mut, um seine Rechte wahrzunehmen, um seine Freiheit zu leben oder seine Meinung zu sagen. Demokratie ist die Staatsform, die vom Mutigsein entlastet. Hieraus gewinnt sie ihre Legitimation. Das macht sie auf so eine lebenswerte Art langweilig. Nur in Diktaturen muss man mutig sein.

Dass nun ausgerechnet ein Bundespräsident zu mehr Mut aufruft, ist bemerkenswert. Es offenbart eine tiefe Verunsicherung der politischen Klasse. Insofern war Steinmeiers Rede von bestechender Ehrlichkeit.

Demokratien leben von Vereinfachungen
Und noch eine Formel Steinmeiers gibt zu denken. Wiederholt warnte er davor, es sich „all zu einfach zu machen“. Das war nicht nur deshalb spannend, weil Steinmeiers Partei, die SPD, soeben mit einem großen Vereinfacher von Umfragehoch zu Umfragehoch eilt.

Es war vor allem das unfreiwillige Eingeständnis, dass Demokratien ein dysfunktionales Moment eingebaut ist, da sie von Vereinfachungen leben. Das ist in einer Welt, in der es keine einfachen Antworten gibt, zumindest eine Herausforderung.

Doch komplexe Bedingungen brauchen nicht nur komplexe Antworten. Sie brauchen vor allem die Fähigkeit, Differenzen auszuhalten. Doch genau diese Fähigkeit, Differenzen zuzulassen und abweichende, aber legitime Meinungen nicht an die politischen Ränder zu drängen, daran hat es in der Vergangenheit all zu oft gemangelt. Steinmeier hat angekündigt, parteiisch sein zu wollen – „parteiisch, wenn es um die Sache der Demokratie selbst geht“. Man sollte ihn beim Wort nehmen.
AUTOREN-INFO
Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist.