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Deutschlands Blick auf die Verbrechen in Polen im Zweiten Weltkrieg

Prof. Stephan LEHNSTAEDT

Deutscher Historiker und Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien am Touro College Berlin.

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Die deutschen Assoziationen zum Angriff auf Polen 1939 beschränken sich weitgehend auf das gestellte Foto der deutschen Soldaten, die in Zoppot einen Schlagbaum einreißen – und das hierzulande weiterhin gefühlt jeden zweiten Zeitungstext über Polen im Zweiten Weltkrieg illustriert – sowie die Beschießung der Westerplatte in Danzig durch das Schulschiff „Schleswig-Holstein“.

Einer ernsthafteren Auseinandersetzung mit den Verbrechen im Osten – und zwar nicht nur denjenigen in Polen – stand bis 1990 der Kalte Krieg im Wege: Zugeständnisse an den Gegner schienen kaum denkbar. Erst nach dem Fall der Mauer setzte hier ein langsamer Wandel ein, der auch mit einem historiographischen Boom verbunden war. So vollzog die Wissenschaft gewissermaßen die Osterweiterung der EU nach und schuf eine begrenzte Aufmerksamkeit für die mörderische deutsche Politik im Zweiten Weltkrieg.

Und so beleuchtet in Berlin heute das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Schicksale polnischer Zwangsarbeiter. Das im Sommer 2021 eröffnete Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung fokussiert zwar auf deutsche Leidenserfahrungen, ordnet diese aber als Folge und Konsequenz deutlich mörderischerer nationalsozialistischer Politik im besetzen Polen ein. Und die Gedenkstätte Stille Helden, die der Rettung von Juden während des Holocaust gewidmet ist, zeigt eine Vielzahl polnischer Heldinnen und Helden.

Doch der verbrecherische Charakter der deutschen Besatzung Polens ist trotzdem nur wenig im deutschen Bewusstsein präsent. Polen ist hier allerdings kein Einzelfall. Das deutsche Gedenken folgt Tatkomplexen wie dem Holocaust, der „Euthanasie“, der Verfolgung der Sinti und Roma sowie der der Homosexuellen. Die Schuld für Krieg und Holocaust ist zwar unumstritten, aber auch entpersonalisiert: Im familiären Gedächtnis kommt Täterschaft in aller Regel nicht vor – stattdessen glaubt ein Drittel der Deutschen, dass ihre Vorfahren unter den Opfern des Krieges gewesen seien.

Die durchaus ernsthaften Bemühungen um historische Aufklärung sind also nur begrenzt erfolgreich. Dennoch sehen 65 Prozent der Polen und 57 Prozent der Deutschen gute bis sehr gute Beziehungen der beiden Länder. Zugleich meinen jeweils mehr als 20 Prozent der Polen und Deutschen, die weitere Verbesserung des nachbarschaftlichen Verhältnisses beruhe auf einer Verständigung über die Vergangenheit.

Auf politischer Ebene schien sich dieses Thema zuletzt ausschließlich auf die Frage nach Reparationen zu verengen. Warschau hat sie bislang nicht offiziell gefordert, aber die Angst davor hat in Berlin zu einiger Dynamik geführt. Als maßgeblicher Ideengeber und Projektträger hat das Auswärtige Amt deshalb ein Polen-Denkmal angestoßen, das vom Bundestag letztes Jahr beschlossen wurde.

Ob allerdings das seit kurzem vorliegende Konzept mit seinem starken Fokus auf ethnisch-katholische Polen – aber z.B. unter Ausklammerung etwa der Verfolgung auch jüdischer Bürger der Rzeczpospolita – wirklich eine historisch zutreffende Gesamtperspektive bietet, darf bezweifelt werden. Es scheint vor allem sämtliche angenommenen und tatsächlichen Wünsche der Warschauer Regierung proaktiv erfüllen zu wollen. Entsprechend groß ist deren Zufriedenheit, denn sie kann einen geschichtspolitischen Sieg über Deutschland vermelden und muss sich nicht dafür rechtfertigen, die hierzulande kategorisch abgelehnten Reparationen nicht geliefert zu haben. Als „Kollateralschaden“ unterbleiben allerdings dringend notwendige Zahlungen für die nur noch wenigen Überlebenden des deutschen Terrors, für die sich keine der beiden Regierungen interessiert.

Die Geschichte wird so zur politischen Verhandlungsmasse, was weder Wahrheit noch Erkenntnis oder gar der Versöhnung förderlich ist. Das ist umso bedauerlicher, als der Bundestag eigentlich mit „einem Ort des Erinnerns und der Begegnung dem Charakter der deutsch-polnischen Geschichte gerecht werden und zur Vertiefung der besonderen bilateralen Beziehungen beitragen“ wollte.

In diesem Beschluss liegt eine große Chance: Die deutschen Parlamentarier haben klar erkannt, dass die deutsch-polnische Geschichte mehr ist, als nur der Zweite Weltkrieg – selbst wenn dieser natürlich von großer Wichtigkeit ist. Aber sie sehen in Polen nicht nur ein Opfer, dem im der Gedenkkultur gewissermaßen eins angemessene Stellung zugewiesen werden soll, sondern einen gleichrangigen Nachbarn und Partner, mit dem uns eine viel längere gemeinsame Vergangenheit verbindet. Und in der Tat existieren die „besonderen bilateralen Beziehungen“ ja nicht wegen, sondern trotz der Verbrechen der Jahre 1939 bis 1945.

Es ist deshalb notwendig, dass die Deutschen viel mehr über ihren Nachbarn lernen. Selbstverständlich über den Krieg und die Teilungen, aber eben auch über Kazimierz den Großen, die Jagiellonen und die wahrhaft erstaunliche alte Rzeczpospolita. Nicht zuletzt die gemeinsame Geschichte ist die längste Zeit positiv: So beschlossen 1453 die Danziger Stadtväter, dem polnischen König zu huldigen, weil sie nicht mehr unter der Herrschaft des Deutschen Ordens stehen wollten. 1697 wählte der polnische Sejm einen Sachsen zum König. Zwei friedliche Herrschaftswechsel, beide Male ökonomisch motiviert. Als im 17. und 18. Jahrhundert zehntausende Deutsche an der Weichsel oder in Wolhynien siedelten, taten sie es auf Einladung der polnischen Herrscher. Und als im 19. Jahrhundert eine noch größere Anzahl von Polen ins Ruhrgebiet ging, um dort im Bergbau tätig zu werden, waren sie ebenfalls gefragte Arbeitskräfte. Über all das ist zu reden.

Akteure für eine entsprechende Vermittlung gibt es, etwa das Deutsche Historische Institut in Warschau oder das Centrum Badań Historycznych in Berlin. Doch geeignete Maßnahmen und attraktive Orte fehlen. Sie werden Geld kosten, sind aber unerlässlich, wenn das Gedenken über reine Symbolik hinausgehen und zu substantiellem Wissen und Verständnis führen soll. Das sollte uns Polen wert sein.

Prof. Stephan Lehnstaedt