Hatte Jesus wirklich leibliche Geschwister?
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Der Vorwurf: Jesus war kein Einzelkind. Er hatte mindestens vier Geschwister und gehörte zu einer großen Familie. Folglich ist seine Mutter Maria auch nicht zeitlebens Jungfrau geblieben.
Vier scheinbare Argumente für angeblich leibliche Geschwister Jesu
Argument 1: Mt 1,18 berichtet: »Bevor sie [Maria und Josef] zusammen kamen, zeigte sich, dass sie [Maria] ein Kind erwartete.« Von einem »bevor« kann man nur sinnvoll sprechen, wenn sie »danach« wirklich miteinander verkehrt haben.
Antwort: Diese Schlussfolgerung ist nicht zwingend. »Bevor ich meine erste CD brannte, ging mein CD-Brenner schon kaputt.« Der Satz lässt offen, ob ich seither nie mehr versucht habe, eine CD zu brennen (was möglich wäre), oder ob ich später ein neues Gerät gekauft habe. Beide Möglichkeiten wären denkbar. Dasselbe gilt vom Zusammenkommen Marias und Josefs.
Argument 2: Nach Mt 1,25 hat Josef Maria nicht »erkannt« (d.h. beide sind nicht ehelich zusammengekommen) »bis Jesus geboren wurde.« Folglich hatten sie nach der Geburt Jesu miteinander ehelichen Verkehr.
Antwort: Nein. Das Wort »bis« ist lediglich eine Aussage über die Zeit bis zu einem bestimmten Ereignis, nicht aber über die Zeit danach. Wenn Jesus z.B. in Mt 28,20 sagt: »Ich bleibe bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt«, dann wollte er damit nicht andeuten, er werde nachher seine Jünger verlassen.
Argument 3: In Lk 2,7 heißt es: »Und sie [Maria] gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen.« Jesus wird als Erstgeborener bezeichnet. Also hatte Maria noch weitere Kinder.
Antwort: Nach Ex 13,2 sollte jede männliche »Erstgeburt« Gott als Eigentum gehören und musste im Tempel ausgelöst werden (so auch bei Jesus). Dies galt natürlich auch für den Fall, dass eine Frau keine weiteren Kinder gebar – was ja zum Zeitpunkt der Erstgeburt noch ungewiss war. Darum wird in Ex 13,2 die Erstgeburt definiert als das, was »den Mutterschoß öffnet«. Lukas benutzt an dieser Stelle den Ausdruck der »Erstgeburt« gerade darum, weil er im Folgenden über die Erfüllung eben dieses Gesetzes des Moses berichten wird (Lk 2,22-24).
Argument 4: Jesus hatte nach der Aussage der Evangelien Brüder und Schwestern. Vier dieser so genannten »Herrenbrüder« sind uns sogar namentlich in Mt 13,55 überliefert, nämlich Jakobus, Josef, Simon und Judas. Ebenso bei Mk 6,3 – mit dem einzigen Unterschied, dass hier »Josef« mit »s« geschrieben wird – also »Joses«.
Antwort: Sowohl die Sprache des AT (Hebräisch) als auch die Umgangsprache Jesu (Aramäisch) kennt für Verwandtschaftsverhältnisse wie »Vetter«, »Neffe« oder »Cousin« keine eigenen Wörter. Man sprach damals stattdessen einfach von »Brüdern«. In diesem Sinn wird z.B. Lot im AT als »Bruder Abrahams« bezeichnet (Gen 14,16), obwohl kurz davor gesagt wurde, sein Vater Haran sei ein Bruder von Abraham – und er folglich Abrahams Neffe (Gen 11,27). Einen ähnlichen Fall gibt es in 1Chr 23,21-22, wo es heißt: »Die Söhne Machlis waren Eleasar und Kisch. Eleasar ... hatte nur Töchter, und diese heirateten die Söhne des Kisch, ihre Brüder.«[1] Folglich können mit den »Brüdern Jesu« auch seine Cousins gemeint sein.
Einwand: Die Evangelien im NT sind auf Griechisch geschrieben. Im Griechischen aber gibt es sehr wohl eigene Wörter für Brüder und Cousins. Wären darum Jakobus, Josef, Simon und Judas nur Cousins von Jesus gewesen, dann hätten die Evangelisten sicher das entsprechende griechische Wort verwendet.
Antwort: Das stimmt im Normalfall. Allerdings kommt es in jüdisch geprägten Texten, die in Griechisch geschrieben wurden (oder Übersetzungen sind), häufig vor, dass man das ungenaue hebräische/aramäische Wort mit dem entsprechenden griechischen Wort wiedergegeben hat. Aus Respekt vor der ursprünglichen Sprachgewohnheit oder dem Originaltext (sog. Hebraismen). Genau das ist z.B. bei der griechischen Übersetzung des AT geschehen (ca. 200 Jahre v. Chr.). Hier wurden an den beiden oben genannten Stellen der Neffe und die Cousins einfach als »Brüder« übersetzt (griech. adelphós = Bruder) – obwohl es ein genaueres griechisches Wort für sie gegeben hätte (nämlich exádelphos = Neffe bzw. anepsiós = Vetter/Cousin). Auch im NT ist auffällig, dass oft das genaue Verwandtschaftsverhältnis sprachlich nicht geklärt wird, obwohl es ein präzises griechisches Wort geben würde. So wird die »Base« Elisabeth im griechischen Urtext nur als »Verwandte« Mariens (syngenís) bezeichnet (Lk 1,36). Ähnlich an vielen anderen Stellen (z.B. Lk 1,58; 14,12; Joh 18,26; Apg 10,24; Röm 16,7.21). Diese Tendenz bestätigt also nur unser Argument.
Außerdem: Wir können annehmen, dass Josef, der Nährvater Jesu, zur Zeit des öffentlichen Auftretens Jesu nicht mehr am Leben war (vgl. Mk 3,31-35; Joh 2,1-12; Joh 19,25-27; Apg 1,13-14). Maria könnte sich darum als Witwe mit Jesus dem Haushalt von Verwandten angeschlossen haben. Damit wäre Jesus tatsächlich zusammen mit seinen Cousins wie mit »Brüdern« aufgewachsen – und es wäre verständlich, dass er später oft als deren »Bruder« bezeichnet wurde.
Sherlock Holmes im Evangelium: Wer ist die Mutter von wem?
Die vier scheinbaren Argumente beweisen also keineswegs, dass Jesus wirklich leibliche Geschwister hatte; alle Argumente lassen sich entkräftigen. Im Folgenden wollen wir positiv zeigen, was es mit den vier »Brüdern« auf sich hat, indem wir versuchen, die wirklichen Eltern der sog. »Brüder Jesu« zu bestimmen.
Wer ist die wirkliche Mutter von Jakobus und Josef/s?
In Mt 27,56 und Mk 15,40 wird berichtet, unter dem Kreuz Jesu wäre eine Frau namens »Maria, die Mutter des Jakobus und des Josef« gestanden (bei Mk: »Joses«). Sind die beiden Söhne jener Maria identisch mit den beiden oben genannten »Brüdern« Jesu? Die Vermutung liegt nahe, denn im Matthäusevangelium kommen diese beiden Namen nur noch in der Liste der »Brüder Jesu« vor (Mt 13,55) und dort in der gleichen Reihenfolge. Noch deutlicher in Mk, wo es um Jakobus und Joses (mit »s«) geht. Diese seltene Namenskombination kommt im ganzen NT überhaupt nur an zwei Stellen vor, nämlich in der Liste der »Brüder Jesu« (Mk 6,3) und bei der Kreuzigungsszene (Mk 15,40). Folglich: Offensichtlich ist Maria, die Mutter von Jakobus und Josef/s, die unter dem Kreuz stand, die Mutter der beiden »Brüder Jesu«.
Könnte diese Maria aber nicht einfach Maria, die Mutter Jesu sein – womit dann Jakobus und Josef/s doch leibliche Brüder von Jesus wären? Es ist zwar richtig, dass auch die Mutter Jesu unter dem Kreuz stand und ebenfalls Maria heißt (Joh 19,25), doch ist sie sicher nicht identisch mit jener Maria, die als Mutter von Jakobus und Josef/s bezeichnet wurde. Der Beweis: Will man eine Person durch Verwandte näher beschreiben, dann würde man sinnvoller Weise zuerst den berühmtesten Verwandten nennen. Wäre darum die Mutter Gottes die Mutter von Jakobus und Josef/s, dann hätte der Evangelist nicht diese beiden als ihre Söhne erwähnt, sondern Jesus selber. So wie die hl. Monika nie als »Mutter von Navigius« bezeichnet wird – sondern als »Mutter des hl. Augustinus« (weil Navigius eben der völlig unbekannte Bruder des hl. Augustinus war). Außerdem wird Maria, die Mutter Jesu, sonst immer als »seine Mutter« oder »Mutter Jesu« bezeichnet.
Noch mehr: Mt 27,56 berichtet, das unter dem Kreuz außer Maria, der Mutter von Jakobus und Josef/s, noch Maria von Magdala stand. Einige Verse später – am Grab – nimmt der Evangelist wieder auf diese beiden Marias Bezug: »Maria Magdalena und die andere Maria« (Mt 27,61 und 28,1). Wäre die Mutter von Jakobus und Josef/s wirklich die Mutter Jesu, dann wäre es schwer vorstellbar, dass sie hier einfach nur als die »andere Maria« bezeichnet wird.
Folglich: Maria, die Mutter von Jakobus und Josef/s ist verschieden von Maria, der Mutter Jesu.
Könnten nicht wenigstens Simon und Judas die Söhne von Maria, der Mutter Gottes sein – und damit »Brüder Jesu«?
Aus dem vorher Gesagten lässt sich jetzt leicht ableiten, dass auch Simon und Judas keine leiblichen Brüder Jesu waren. Als Jesus in seiner Heimatstadt predigte, riefen die Leute: »Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria und [heißen nicht] seine Brüder Jakobus und Josef und Simon und Judas? Und seine Schwestern, sind sie nicht alle bei uns?« (Mt 13,55; vgl. Mk 6,3). Die Bewohner von Nazareth wundern sich, wo der Ursprung der Weisheit Jesu liegen könnte – und zählen darum seine Verwandten auf: Josef, den sie für seinen Vater halten, dann Maria, seine Mutter, und schließlich seine nächsten Verwandten: Jakobus, Josef usw. Wenn also schon Jakobus und Josef keine leiblichen Brüder Jesu sind (vgl. oben), dann erst recht nicht die beiden später genannten oder die Schwestern. Die Bewohner hätten sonst sicher erst Jesu leibliche Brüder genannt.
Daraus folgt wiederum: Jesus hatte keine leiblichen Brüder.
Ein weiteres Argument: Wer hat das Recht, für Maria zu sorgen?
Bekanntlich vertraut Jesus am Kreuz seine Mutter Maria dem Lieblingsjünger Johannes an: »Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich« (Joh 19,26-27). Hätte Maria außer Jesus noch andere leibliche Söhne gehabt (offensichtlich jüngere als Jesus, da er der Erstgeborene war), dann hätten diese vom jüdischen Gesetz her das Recht und die Pflicht gehabt, für Maria zu sorgen. Jesu Wort am Kreuz – kurz vor seinem Sterben – wäre eine richtige Beleidigung, ja ein Unrecht ihnen gegenüber gewesen. Er konnte Maria nur dann dem Apostel Johannes anvertrauen, wenn Maria tatsächlich keine anderen leiblichen Kinder hatte.
Maria hatte also außer Jesus keine leiblichen Kinder. Aber folgt daraus, dass sie immer Jungfrau geblieben ist? Könnte es nicht sein, dass sie zwar mit Josef verkehrte, aber eben keine Kinder mehr bekam?
Die Lehre der Kirche diesbezüglich ist eindeutig: Maria bewahrte ihre Jungfräulichkeit ihr ganzes Leben lang. Aber gibt es dafür Hinweise im Evangelium?
Ja. Wir können das Dogma der immerwährenden Jungfräulichkeit zumindest indirekt aus dem NT ableiten. Als der Erzengel Gabriel Maria die Geburt Jesu verkündet, stellt sie die erstaunte Frage: »Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?« (Lk 1,34). Maria war zu diesem Zeitpunkt bereits mit Josef verlobt. Die Hochzeit war also schon in absehbarer Zeit geplant. Warum reagiert dann Maria so überrascht auf die Ankündigung, sie werde einen Sohn empfangen? Wäre das nicht das Normale? Die einzig sinnvolle Erklärung besteht darin, dass Maria den Vorsatz gefasst hatte, auch in der Ehe mit Josef jungfräulich zu leben.
Einwand: Wenn das ihr Plan war, warum hat sie sich dann überhaupt verlobt?
Antwort: Die Hochzeit könnte zwischen den beiden Eltern beschlossen worden sein. Oder Maria hatte keine Geschwister, so dass sie vom jüdischen Gesetz her einen Verwandten heiraten musste, um zu verhindern, dass der Erbteil der Familie einem anderen Stamm zufällt (vgl. Num 27,6-11; 36,6-12). Maria könnte aber trotzdem für sich den Vorsatz der Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit gefasst haben.
Einwand 2: Das Judentum sah die Mutterschaft als Ideal an, nicht die Jungfräulichkeit. Im Hinblick auf den kommenden Messias gehörte die Mutterschaft sogar zu den religiösen Pflichten eines jüdischen Mädchens. Daher ist der Vorsatz, jungfräulich zu leben, für Maria undenkbar.
Antwort: Richtig ist, dass bei den Juden die Mutterschaft einen hohen Rang besaß. Aber auch der religiös motivierte Verzicht auf den ehelichen Verkehr war bekannt: So musste das ganze Volk drei Tage vor dem Bundesschluss am Sinai enthaltsam leben (Ex 19,14-15). Das Gleiche verlangte der Priester Abimelech von den Soldaten Davids vor dem Essen der hl. Brote (1Sam 21,5-6). Die 84-jährige Witwe Hanna, die bei der Darstellung Jesu im Tempel anwesend war, blieb nach siebenjähriger Ehe unverheiratet, um ganz im Tempel für Gott zu leben. Weiterhin ist bekannt, dass zurzeit Jesu manche Essener (einer jüdischen Splittergruppe) aus religiösen Gründen ganz auf die Ehe verzichteten. Die jungfräuliche Lebensweise war also bei den Juden durchaus bekannt und anerkannt. Als bestes Beispiel kann man Jesus selber anführen, der bekanntermaßen nicht verheiratet war; vermutlich auch Johannes den Täufer, ebenso der Apostel Paulus.
Der biblische Text selbst legt also nahe, dass Maria sich selber ganz der Jungfräulichkeit geweiht hat.
Schlussfolgerung: Auch in Zukunft dürfen wir ganz beruhigt beten: »Jungfrau, Mutter Gottes mein, lass mich ganz dein Eigen sein...«
Zur Lektüre empfohlen:
Ludwig Neidhart, »Die ‚Brüder Jesu’: Hatte Maria mehrere Kinder oder lebte sie stets jungfräulich?« In Theologisches 37 (2007) 393-404
Der Artikel ist im Internet zu finden auf www.theologisches.net.
[Die meisten Informationen dieses KIKs stammen aus diesem Artikel. Der Autor führt seine detektivische Arbeit sogar noch weiter und klärt z.B., wer wohl der Vater von Jakobus und Josef/s war. Alphäus? Klopas? Außerdem finden sich dort viele Hinweise für weitere Literatur.]
[1] Achtung: Manche deutschen Übersetzungen schreiben hier nicht »ihre Brüder«, sondern »ihre Vettern« – was sachlich richtig ist, aber nicht genau das Wort des Urtextes wiedergibt.
Quelle:sjm-congregation.org/…/geschwister_jes…