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Barmherzige Samariter in den Zeiten des Holocaust

Die Strafrechtsverordnung gegen Polen und Juden war nur drei Seiten lang, und das Wort “Tod” tauchte dort siebenmal auf.

Tarnów, deutschbesetztes Polen, 1942. Die Deutschen riegeln das jüdische Viertel ab und verwandeln es in ein Ghetto. Tage mörderischen Amoks – auf den Straßen liegen Leichen in Blutlachen, die Menschen versuchen zu fliehen, einige werden in eine Synagoge gedrängt, die mit ihnen verbrennen wird.

Einige Tage später klopft eine jüdische Frau an die Tür ihrer polnischen Freundin. Eine junge Frau öffnet die Tür. Was tun? Einem Juden Schutz zu bieten, bedeutet Tod – so sagt das deutsche Gesetz, das von den Besatzern eingeführt wurde und für die Polen bindend ist.

Das Leben der jungen Polin hat gerade erst begonnen – wäre es nicht für den Krieg gewesen, hätte sie weiter Physik studiert.

Sie öffnet die Tür weiter.

Die Jüdin kommt herein – und bleibt über zwei Jahre.

* * *

Der Holocaust ist ein immer wiederkehrendes Thema. Meines Erachtens wird eine objektive Diskussion dadurch gehindert, dass uns so schwer kommt, sich den Leidensweg dieser Zeit vorzustellen, und zwar nicht nur mit der Vernunft, sondern auch mit den Gefühlen und mit den Sinnen. Die Analyse der Angst ist nicht dasselbe wie die Angst selbst. Insbesondere im reichen und ordentlichen Westen ist es heue fast nicht mehr möglich.

Ich schreibe diesen für mich so wichtigen Text, um dem Leser zu helfen, sich echte Situationen vorzustellen, so wie man sie zu jener Zeit empfand. Ich werde die allgemeine Lage vorstellen, damit jeder die Bedingungen kennenlernen kann, unter welchen die beschriebenen Ereignisse stattgefunden haben, ich werde einige Beispiele für Maßnahmen und Schwierigkeiten bei der Hilfe geben, dann werde ich ethische Dilemmas präsentieren und schließlich überlegen, ob – abgesehen von der Moralisierung – wir heute besser auf solche extreme Bewährungsprobe vorbereitet sind.

Im Laufe der Zeit wurden die Deutschen als Täter des Zweiten Weltkriegs aus dem Gedächtnis der Welt wegradiert und durch abstrakte “Nazis” ersetzt. Die Nazis haben kein Vaterland und keine Kinder. 1945 haben sie sich aus dem Staub gemacht. Da aber konkrete Schurken benötigt werden, wurde diese Rolle den Polen übertragen. Deswegen können wir von den „in den polnischen Todeslagern von den Nazis ermordeten Juden“ lesen. Da in diesem Satz neben den Juden als Nation nur die Polen genannt werden, wird in die Köpfe der Leser die Assoziation „Nazis–Polen“ eingeprägt. Es wird so lange wiederholt, bis ein Dauereffekt entsteht. Dies führt zu solcher mentalen Akrobatik, wie die Äußerung der Andrea Mitchell von MSNBC über die Juden, die im Aufstand im Warschauer Ghetto „gegen das Regime der Polen und den Nazis“ kämpften (against the Polish and Nazi regime). Die Geschichte wird durch Ignoranz, aber auch durch absichtliche Manipulation verzerrt.

In den Berichten über den Holocaust werden heutzutage fast nie die Deutschen erwähnt. Nachdem sie sich einmal entschuldigt haben, wurde „die Sache somit abgeschlossen“. Dagegen wollen diese schrecklichen Polen „keine Verantwortung für die Verbrechen des Dritten Reiches übernehmen“, wie es kürzlich der Sender France Culture gesagt hat.

* * *

Nein, wir Polen wollen nicht für die Verbrechen anderer verantwortlich gemacht werden. Viele Menschen vergessen, dass Polen weder Teil des Dritten Reiches noch dessen Verbündeter war, sondern ein erobertes Land unter brutaler Besatzung. Wie keine andere Nation kämpften die Polen vom ersten bis zum letzten Kriegstag gegen Nazideutschland und zwar an allen Fronten, von Narvik bis Tobruk, von Breda bis Berlin.

Polen spielten auch eine wichtige Rolle beim Sammeln von Informationen über die deutsche Besatzung im Land und insbesondere über den Holocaust, und sie gaben diese Informationen an den Westen weiter. Ein außerordentlicher Held dieser Zeit war Kavallerie-Hauptmann Witold Pilecki, der sich 1940 in einer Razzia fangen ließ, um das Lager Auschwitz zu infiltrieren und von dort aus Bericht zu erstatten. Eine weitere prominente Persönlichkeit ist Jan Karski, der sich in das Warschauer Ghetto hineingeschmuggelt hat. Er schrieb eine Reihe von Berichten über die Besatzung und den Holocaust, die er als Kurier in den Westen brachte. 1943 traf er Präsident Roosevelt persönlich, aber sein Zeugnis weckte kein Interesse, auch nicht in jüdischen Kreisen. Weitere Informationen über die Reaktion des Westens oder eher deren Fehlen finden Sie in dem Artikel, der unter dem Text zitiert wird.

Selbst wenn der polnische Staat nicht existierte, war die polnische Exilregierung in London tätig, ebenso wie polnische Botschaften in einigen neutralen Ländern wie der Schweiz, wo eine Gruppe von Diplomaten unter der Führung von Aleksander Ładoś, dem polnischen Gesandten in Bern, falsche Südamerikanische Pässe für Juden herstellte. Diese gefälschten Dokumente wurden dann von Kurieren an viele europäische Länder verteilt, wobei Tausende von Menschen ihnen ihr Leben verdankten.

Was die Hilfe für die Juden angeht, so scheint es seltsam, dass alle Länder und Menschen, die nichts getan haben, für alles eine Ausrede bereit haben. Todeslager waren lange Zeit außerhalb der Reichweite von Bombern, aber 1944, während des ungarischen Holocaust, war dies nicht mehr der Fall. Im Gegensatz zur gegenwärtigen Narration wollte kein westlicher Führer einen „Krieg für die Juden“ führen. Antisemitismus war im Westen zu weit verbreitet. Aber es war gerade der ausgehungerte polnische Bauer, durch sechs Jahre Krieg total erschöpft und vom Tod umgeben, der die Ehre der Menschheit retten sollte. Manchmal hatte er einfach nicht genug Kraft. Unter deutscher Herrschaft konnten alle guten Taten das Leben kosten – dein eigenes, das deiner Familie, das deines Nachbarn. Und all diese Leben sind wichtig. Wenn wir an Juden denken, denken wir daran, dass alles Leben wichtig ist, All Lives Matter, was für jeden Humanisten offensichtlich sein sollte.

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Einige Leute vergleichen die Besatzung Polens mit der Besatzung Frankreichs oder anderer westlicher Länder. Diese Fälle haben nichts gemeinsam. Zunächst führten die Deutschen eine genaue Hierarchie menschlicher Rassen ein. Offensichtlich waren sie selbst das Herrenvolk, die Meisterrasse. Etwas unterhalb der Deutschen befanden sich die Skandinavier, ebenfalls ein nordisches Volk. Die Franzosen waren ganz in Ordnung, und es war auf jeden Fall besser, Paris zu genießen, als es zu zerstören. Ganz unten standen die Juden, “Unser Unglück”, laut einem populären deutschen Propagandaslogan. Etwas über den Juden standen die Slawen: Polen, Ukrainer, Russen. “Slawen – Sklaven” – es klingt ähnlich. Die Slawen hatten das Pech, auf dem Land zu leben, das die Deutschen selbst haben wollten – den „Lebensraum im Osten“. Um dies zu erreichen, entwickelten sie den grandiosen „Generalplan Ost“, wo das zukünftige Land vorgestellt wurde, wo Milch und Honig fließen – für die Übermenschen. Den anderen blieb nicht viel Platz. Die Polen wurden vorerst noch gebraucht, da sie Lebensmittel für die Deutschen produzierten und in Fabriken arbeiteten. Aber das Leben eines Polen war nur dann etwas wert, wenn es für das Herrenvolk nützlich war, es hatte keinen Wert für sich. Die Lebensmittelrationen waren für die Untermenschen sehr gering, und der Hunger wurde genutzt, um schwächere Personen zu eliminieren. Der Tod war die typische von den Deutschen angeordnete Strafe, so häufig verwendet, dass er zum Alltag wurde.

Natürlich wurden die Polen mit dem Tod für die Hilfe für die Juden bestraft (selbst für eine angebotene Scheibe Brot – es gibt viele solche Berichte in den Kriegsarchiven), aber auch für nicht ausreichende Lieferungen vom Schweinefleisch an die deutschen Herren oder für den Besitz eines Radios, das selbstverständlich verwendet worden wäre, um Sendungen der polnischen Exilregierung aus London zu hören.

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Nach dem Angriff vom 1. September 1939 zeigten die Deutschen schnell, wer im eroberten Polen der Herr war. Im Rahmen der sogenannten Intelligenzaktion haben sie 100.000 Mitglieder politischer und kultureller Eliten ermordet, um das Rückgrat der Nation zu brechen. Der neue deutsche Generalgouverneur lud die Professoren der Krakauer Jagiellonen-Universität zu einem Vortrag über die deutschen Pläne des Umbaus der Bildung in Polen ein. Die Professoren, kamen an, gespannt auf die Vorlesung, und dann wurden sie von einem SS-Kommando auf einen Lastwagen gedrängt und in ein Konzentrationslager gebracht. All diese Aktionen (und viele andere) ereigneten sich kurz nach dem Angriff, was alle Illusionen über eine Verständigung zwischen Deutschland und Polen oder eine formelle Kollaboration ausgeschossen hat. Es war unmöglich, eine „polnische Regierung“ zu ernennen. Solche Aktivitäten wurden von Marschall Pétain genau beobachtet und bewegten ihn, 1940 rasch den Waffenstillstand zu unterzeichnen und den Widerstand aufzugeben. Um jeden Preis wollte Pétain eine so brutale Besatzung Frankreichs vermeiden, wie er sie in Polen beobachtet hatte.

Die Eroberung Europas (der Welt?) war das Hauptziel des Dritten Reiches, aber gleich das weitere war die Beseitigung der Juden. Die Aktionen gegen die Juden erfolgten in einigen Schritten. Zuerst wurden die Verfolgungen verschärft: jüdisches Eigentum wurde beschlagnahmt, die Juden wurden in schlechtere Wohnungen umgesiedelt und schließlich in Ghettos eingesperrt. Als die Eroberung der Sowjetunion zum Stillstand kam, wurde es offensichtlich, dass der Krieg lange dauern würde, was zu Engpässen in der Lebensmittelversorgung führen würde. Dabei war das Trauma des Hungers nach dem vorherigen Krieg noch lebhaft in der Erinnerung.

Wirtschaftlich denkende Deutsche stellten fest, dass sie von den Juden keinen Nutzen hatten. Sie hassten sie sowieso, mussten also irgendwie ihre Zahl reduzieren. Kein Land wollte sie aufnehmen (Konferenzen von Évian (1938) bis Bermuda (1943) brachten keine Ergebnisse, die Briten schlossen den Fluchtweg nach Palästina). Das tragische Schicksal von Schiffen wie der St. Louis, Struma oder Exodus 1947 (bereits nach dem Krieg), zeigte, dass alle Länder das Problem von sich wegschieben wollten. Der Plan, die Juden auf den von Vichy-Frankreich kontrollierte Madagaskar umzusiedeln, erwies sich aufgrund der britischen Herrschaft über die Meere als unmöglich.

Im Januar 1942 beschlossen die Deutschen auf der Wannsee-Konferenz die „Endlösung der Judenfrage“, d.h. die Vernichtung der Juden in einem Netzwerk von speziell zu diesem Zweck gebauten Todeslagern. Gaskammern und Krematorien ermöglichten ein effizientes Töten im industriellen Maßstab. Bis November 1943 wurden rund zwei Millionen Juden ermordet. Diejenigen, denen es in der Hauptphase des Holocaust gelang, dem Tod zu entkommen, versuchten, bis zum Kriegsende zu überleben. Aus dem Osten näherte sich die Rote Armee. Sie befreite Ostpolen im Sommer 1944 und Westpolen ab Januar 1945. Für die Überlebenden bedeutete dies ein oder zwei strenge Winter, die ohne die Hilfe der Polen, die ebenfalls ums Überleben kämpften, nicht durchzuhalten wären.

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Es gibt verschiedene Theorien darüber, warum das eroberte Polen für die Todeslager ausgewählt wurde. Meiner Meinung nach ist der Grund einfach. In Polen war die größte jüdische Gemeinde beheimatet, und es wäre wenig sinnvoll, sie an einen anderen Ort zu transportieren. Die polnische Staatsstruktur wurde total zerstört und durch eine deutsche Kolonialverwaltung ersetzt. Westpolen (wie die Gegend um Auschwitz) wurde in Großdeutschland eingegliedert, der Rest (Generalgouvernement) wurde vom deutschen Gouverneur Hans Frank von seinem Hauptquartier verwaltet, das sich auf dem beschlagnahmten Schloss der polnischen Könige in Krakau befand.

Die Strafrechtsverordnung gegen Polen und Juden war nur drei Seiten lang, und das Wort “Tod” tauchte dort siebenmal auf.

Das besetzte Polen war weit von den Augen des Westens, wo die Deutschen vorgaben, gemeinsam mit anderen Nationen ein neues Europa aufzubauen. In Polen konnten die Deutschen tun, was sie wollten, ohne jemanden zu fragen. In der Tat konnte die lokale Bevölkerung den charakteristischen süßen Geruch verbrannter Körper spüren. Meine Schwiegermutter, die in Chrzanów (20 km von Auschwitz) lebte, erzählte davon. Die Meinung dieser Polen spielte aber keine Rolle – sie wurden wie Vieh behandelt und sollten sowieso bald verschwinden. Ich möchte meine Leser daran erinnern, dass die Welt für die Stimmen der Polen taub war – Witold Pilecki oder Jan Karski. Die Welt wusste es, schwieg aber.

Und die Polen halfen, so gut sie konnten. Die jüdische Bevölkerung war nicht einheitlich, was das Retten einfacher oder schwieriger machte. Einerseits gab es assimilierte Juden wie Władysław Szpilman, der Pianist aus dem Film von Polanski, der Chopin im polnischen Radio spielte. Andererseits gab es Juden aus dem Schtetl mit Bärten und Schläfenlocken, genau wie in „Anatevka“. Sie sprachen nicht einmal Polnisch, nur Jiddisch.

Solange ihr Aussehen sie nicht verriet, konnten die assimilierten Juden versuchen, mit falschen Dokumenten unter den Polen zu leben. Dies war bereits vom Anfang des Krieges denkbar, ohne in das Ghetto zu gehen. Aber die meisten Juden blieben in den Ghettos, die für einige Zeit relativ sicher waren, obwohl sehr überfüllt. Es gab dort erhebliche soziale Unterschiede – einige Juden besuchten elegante Cafés (in einem von ihnen trat Polanskis Pianist auf), während andere hungerten. Einige schmuggelten Lebensmittel, um zu überleben, während andere große Geschäfte machten. Wichtig ist, dass die Juden keinen direkten Kontakt zur polnischen Bevölkerung hatten, da die jüdische Polizei die Ordnung aufrechterhielt. Wenn die Juden versuchten, das Ghetto zu verlassen, wurden sie bestraft (natürlich mit dem Tod), ebenso wie die Polen, mit denen sie Kontakt aufnahmen. In den Jahren 1942-1943, als die Ghettos liquidiert wurden und Massenmorde begannen, versuchten einige Juden zu fliehen und sich bei den polnischen Freunden oder im Wald zu verstecken.

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Erinnern Sie sich an die Geschichte am Anfang meiner Erzählung? Die junge Frau aus der Eröffnungsszene, die der fliehenden Jüdin die Tür aufmachte, ist meine Mutter.

1942 war sie 23 Jahre alt und lebte mit ihrem Vater in Tarnów. Frieda, eine Jüdin, lebte im jüdischen Viertel, nachdem sie aus der von Deutschland besetzten Tschechoslowakei geflohen war. Zu Beginn des Krieges, als noch polnisch-jüdische Kontakte möglich waren, traf Frieda meine Mutter. Sie gab ihr Englischunterricht und benutzte oft das tschechische Wort “opakovat!”, das auf Polnisch „einpacken“ und auf Tschechisch „wiederholen bedeutet. Sie haben sich befreundet. Nachdem das Ghetto abgeriegelt wurde, schmuggelte meine Mutter Frieda auf die “arische” Seite und brachte sie schließlich nach Hause. Sie versteckte sie dort für ca. 1.000 Tage von Sommer 1942 bis Januar 1945.

Jeder Tag war wie das Gehen auf einem Drahtseil über Niagara. Ein Fehltritt: das brennende Licht, das Weinen, jeder Fehler und es war das Ende. Abgesehen von Heldentum erforderte es auch Ausdauer. Zwei Lebensmittelrationen in drei aufteilen.

Oft vergessen wir, wie belastend die ständige Anwesenheit vieler Menschen auf engstem Raum ist, und zwar für eine Zeit, die ausreicht, um zum Mars zu fliegen. Ein durch anhaltende Angst und Klaustrophobie verursachter Nervenzusammenbruch war ein häufiges Problem.

Jetzt wissen wir, dass es 1.000 Tage dauerte. Aber im Jahr 1942 wusste niemand, wer den Krieg gewinnt, ganz zu schweigen davon, wie lange er dauern wird. Im Grunde war es eine Entscheidung auf unbestimmte Zeit, vielleicht bis zum gemeinsamen Tod.

Meine Mutter, mein Großvater und Frieda, kurz nach dem Krieg.

Wir lesen oft über siebentausend polnische Helden, die den Juden geholfen haben. Die restlichen Polen sollen also schlechte Menschen, deutsche Kollaborateure gewesen sein. Erstens sind die Gerechten, d.h. die Polen, welche die Juden retteten, nur die registrierten Fälle, die Spitze des Eisbergs. Die erste, schwierige Bedingung war das Überleben und die Wiederaufnahme des Kontakts nach dem Krieg. Es war der gerettete Jude, der den Fall bei Yad Vashem anmelden sollte, aber was passiert, wenn er nach Amerika ausgereist ist und dort ein neues Leben gefunden hat? Während des Krieges tauschten die Menschen ihre Visitenkarten nicht aus, es war besser, nicht zu viel zu wissen.

Es ist nicht wahr, dass sich die meisten Polen gegen die Juden gewandt haben. Lassen Sie uns ein bisschen rechnen: Wenn nur die Hälfte der polnischen Bevölkerung negativ eingestellt wäre, wäre die Chance, ein Treffen zu überleben – 1:2, zwei Treffen – 1:4, drei Treffen: 1:8 und zehn Treffen – 1:1024 (0,1%) und so weiter. Am Ende hätten der Gerechte und sein / ihr Jude keine Überlebenschance. Eine Denunziation an die Gestapo – ein in wenigen Minuten geschriebenes Brieflein – wäre tödlich. Geheimnisse können nicht lange aufbewahrt werden und Klatsch verbreitet sich schnell. Dennoch überlebten viele Juden, was auch daran liegt, dass ihre Chancen, einen guten Polen zu treffen, viel höher waren.

Meine Mutter erzählte mir, dass Frieda sich einmal zu sicher fühlte und frei im Haus herumlief. Eines Tages kam eine Nachbarin herein und sah Frieda. Sie sprach dann mit meiner Mutter und – ohne es direkt zu sagen – suggerierte das Lösegeld. Meine Mutter antwortete ziemlich scharf, dass sie einige Leute kenne, die solche Fälle erledigen. Sie meinte ihre Kontakte zum polnischen Untergrund, zur Heimatarmee, die Denunzianten und Kollaborateure erschoss. Die Sache war also weg vom Tisch. Aber die Nachricht verbreitete sich sicher. Trotzdem ist es nie etwas passiert. Dies zeigt, dass die Hinrichtungsdrohung überzeugend war und – noch wichtiger – die ganze Zeit über niemand meine Mutter den Deutschen denunziert hat. Meine Existenz ist der Beweis dafür.

Und dann? Ihre Freundschaft dauerte bis zu ihrem Tod. Meine Mutter erhielt ihre Yad Vashem-Medaille 1977 in der israelischen Botschaft in London. Frieda lebte mit ihrer Schwester und deren Ehemann in London. Friedas Ehemann kam in Auschwitz um. Für mich war sie “Tante Frieda aus London”, die mir Spitfire- und Hurricane-Modellbausätze schickte.


Medaille der Gerechten unter den Völkern.

Übergabe der Medaille, Israels Botschaft in London, 1977.

Wir konzentrieren uns oft auf große Entscheidungen, aber das Leben besteht aus einer Reihe kleiner, aber bedeutender Ereignisse.

In seinem Buch beschreibt der polnische Jude Bronisław Erlich seine Kriegsabenteuer als junger Mann. Er sah nicht sehr jüdisch aus und versuchte sich mit polnischen Papieren durchzubringen. Eines Tages wurde er von einer deutschen Patrouille gefangen genommen und auf eine Polizeistation gebracht. Ein Offizier kam und wusste nicht, was tun, dann sagte zu seinen Soldaten: »Bring ihn zur Gestapo in der Stadt!« Dort befand sich eine polnische Frau, die verstand, was los war. Sie umarmte den Polizisten und sagte: »Hans, lass ihn los, er will nur nach Hause gehen«. Der Offizier stimmte zu. Natürlich hat niemand die Situation besprochen oder erklärt, man hat sich ohne Worte verstanden. Bronisławs Leben wurde wieder verschont.

Solche kleinen Ereignisse werden nirgendwo registriert, sind aber von kritischer Bedeutung. Jedes dieser Ereignisse war wie eine Runde vom russischen Roulette. Wenn die meisten Polen nicht bereit wären zu helfen, wären die Gewinnchancen für die ganze Serie dieser Überlebensspiele nahe Null. Und doch überlebten viele. Trotzdem war ihre Angst sehr konkret, jedes verlorene Spiel bedeutete den Tod. Kein Wunder, dass sich viele Juden nur an diese Angst und all ihre umgekommenen Verwandten erinnern, und nicht an die Hilfe, die sie erhalten haben und ohne welche sie uns über diese Ereignisse nicht berichten könnten.

Die deutsche Todesdrohung war sehr real. Es genügt, sich nur an eines von vielen ähnlichen Beispielen zu erinnern – den Märtyrertod der Familie Ulma aus Markowa im Südosten Polens. Jahrelang halfen die Ulmas den Juden, 1944 hatten sie zwei jüdische Familien in ihrem Haus, insgesamt acht Personen. Die Ulmas waren sich des Risikos bewusst. Sie waren gute und mutige Leute. Und sie waren auch gute Christen – sie hatten das Gleichnis vom barmherzigen Samariter in ihrer Bibel rot hervorgehoben. Und sie gaben das ultimative Zeugnis ihres Glaubens. Eines Tages wurden sie denunziert, die Deutschen kamen und töteten zuerst alle Juden, dann Józef Ulma und seine hochschwangere Frau Wiktoria und nach kurzer Überlegung sechs Kinder (im Alter von 18 Monaten bis 8 Jahren). All dies geschah vor den Augen anderer Polen, eine sehr klare Botschaft. Jeder wusste: Das kann mir morgen passieren, ohne Gnade. Ein Leben für ein Leben – es war kein Gentlemen-Spiel. Wenn Sie einen Juden verstecken würden, könnte ein verängstigter Nachbar Sie denunzieren. Wenn ein Jude von den Deutschen gefangen, gefoltert und mit falschen Versprechungen getäuscht wurde, könnte er alle Menschen angeben, die ihm geholfen haben. Moralische Verpflichtungen können auf Ethik-Seminaren analysiert werden, aber angesichts der Maschinengewehre eines SS-Kommandos lassen wir unsere biologischen Instinkte gewinnen.

Moralische Entscheidungen sind hier extrem. Wenn wir über sie sprechen, müssen wir uns an die Deutschen erinnern, die sie geschaffen haben. Grausame Gesetze mit umgekehrter Moral. Wenn Sie sich jetzt während des Krieges an das Gesetz halten, werden Sie später als Verbrecher betrachtet. Wenn Sie das Gesetz brechen, werden Sie ein Held sein. Oft ein toter Held.

Es wird auch jetzt darüber heiß diskutiert, was wirklich passiert ist, was hätte getan werden sollen. Ist die Rettung des eigenen Lebens ein Verbrechen der Kollaboration oder nur ein Überlebensinstinkt? Wenn Hitlers Opfer heftig darüber streiten, wer am meisten gelitten hat und wer der schlimmste Bösewicht war, kann der echte Täter in seinem Grab lachen.

Bitte, schenken wir Hitler diesen endgültigen Sieg nicht.

Meine Mutter und Frieda. Freundschaft fürs Leben, Ferien in Polen.

Jetzt, wo wir das alles wissen, sind wir stärker? Ich bezweifle das. Letztendlich geht es immer um mein eigenes Leben und meinen Tod. Stellen wir uns vor: Sie sind in einem Bus, einige Männer greifen einen Passagier an, wollen sein Smartphone stehlen, schlagen ihn. Was tun? Sie können den Kopf wegdrehen, diese Männer zurechtweisen oder versuchen, sie aktiv zu stoppen. Aber es sind drei starke junge Männer, und neben Ihnen sitzen Ihre Tochter und Ihre schwangere Frau. Sie möchten gern sich wie ein Held verhalten. Tun Sie es? Höchstwahrscheinlich schauen Sie nur Ihre Familie an und nehmen sie mit, um an der nächsten Haltestelle auszusteigen.

Auf jeden Fall wäre es nur ein einziger Akt des Mutes. Ein echter Test wäre langfristig Risiko für einen Fremden auf sich zu nehmen, während Sie selbst in Gefahr sind. Glücklicherweise ist ein solcher Test hier und jetzt schwer zu simulieren. Ich glaube nicht, dass viele Menschen würden sich als Helden erweisen. Die moderne Gesellschaft konzentriert sich auf Spaß, und Worte wie “Pflicht” oder “Verantwortung” klingen altmodisch. Der öffentliche Bereich wird von jungen, gesunden, schönen und erfolgreichen dominiert. Ist noch jemand bereit, Treue zu versprechen, in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, bis der Tod uns scheidet?

Wenn wir uns die aktuelle Pandemie ansehen, merken wir, wie nervös die Menschen nach nur einem Jahr geworden sind. Der Widerstand gegen einen Besatzer oder eine andere existenzielle Bedrohung erfordert ein koordiniertes Vorgehen einer gesamten Gesellschaft, da einzelne, die nicht mitmachen, diese gemeinsame Anstrengung zu Nichte machen können. Man muss ein starkes moralisches Rückgrat haben. Das Nachahmen des barmherzigen Samariters – so wie die Ulmas – widerspricht der Logik und erfordert etwas mehr. Es ist einfach, mit Plakaten herumzulaufen, die die anderen zum Handeln auffordern, aber das eigene Leben, die Gesundheit und das Eigentum zu opfern ist um einiges schwieriger. Viele Menschen halten das Heldentum der Kriegszeit für selbstverständlich, sogar für eine moralische Pflicht, und kritisieren andere dafür, dass sie damals nicht genug getan haben. Heute wäre aber jede solche Heldentat den Friedensnobelpreis wert.

Passieren solche Taten noch? Ich weiß es nicht. Ich mache mir Sorgen, dass in den modernen Gesellschaften jeder wegrennen und versuchen würde, eigene Haut zu retten. Vielleicht bin ich zu pessimistisch. Wir können auch hoffen, dass so etwas nicht noch einmal passieren wird. Lass uns hoffen.

Jan Śliwa

Leidenschaftlich für Sprachen und Kultur interessiert. Informatiker. Publiziert Artikel über Datenschutz, medizinische Forschung, ethische und gesellschaftliche Aspekte der Technologie. Lebt und arbeitet in der Schweiz.

Andere Texte

Ergänzungsmaterial:

“Hidden Holocaust”


Kwoczyński Stanisław und Śliwowa Alina (Kwoczyńska) in der Datenbank von Yad Vashem:

yadvashem.org/?searchType=righteous_only&language=en&itemId=4015

Bibliographie:

Nechama Tec “When Light Pierced the Darkness: Christian Rescue of Jews in Nazi-Occupied Poland”

Martin Winstone “The Dark Heart of Hitler’s Europe: Nazi Rule in Poland under the General Government”

Bronisław Erlich “Ein Überlebender berichtet”

Gabriel Berger “Der Kutscher und der Gestapo-Mann. Berichte jüdischer Augenzeugen der NS-Herrschaft im besetzten Polen in der Region Tarnów”

wszystkoconajwazniejsze.pl/…barmherzige-samariter-in-den-zeiten-des-holocaust/