Die traditionelle Familie als krisenfeste Institution (renovatio.org)

Die traditionelle Familie als krisenfeste Institution

27. April 2022

Louis Janmot - Poème de l'âme - Rayons de soleil (Wikimedia Commons/gemeinfrei)

Der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn geht davon aus, dass Deutschland eine langanhaltende Wirtschaftskrise bevorsteht. Der deutsche Staat werde wahrscheinlich mit der Bewältigung dieser Krise überfordert sein. Jungen Menschen empfiehlt Sinn, sich auf traditionelle Familienbilder zu besinnen, weil die Familie im Gegensatz zum Staat in den bevorstehenden schweren Jahren und Jahrzehnten eine zuverlässige Solidargemeinschaft sein werde.
Die “guten Zeiten” in Deutschland würden aufgrund der demographischen Lage, zahlreicher politischer Fehlentscheidungen und den Folgen der Corona- sowie der Ukraine-Krise “für eine längere Periode” vorbei sein. In dieser Lage müsse man den Menschen die folgende Botschaft vermitteln:
“Sorgt selber für euch. Glaubt nicht daran, dass der Staat das schafft. Der Staat wird heillos überfordert sein mit den sozialpolitischen Aufgaben. […] Jungen Menschen kann man nur raten: Besinnt euch auf traditionelle Familienbilder, seht zu, dass ihr Kinder habt, damit ihr mit diesen Kindern alt werden könnt. Der Zusammenhalt in der Familie wird angesichts der Schwierigkeiten des Staates immer wichtiger werden.”1

Hintergrund und Bewertung
Humanethologen betrachten die heute als “Lokalgruppe” bezeichnete und früher “Sippe” genannte Gemeinschaft mehrerer miteinander verwandter Familien als die stabilste und älteste Form menschlicher Gemeinschaft. Klans sind größere Gemeinschaften, die aus mehreren Sippen bestehen.2
Der Begriff der Großfamilie ist heute aufgrund des kriminellen Agierens kulturferner Familienstrukturen überwiegend negativ konnotiert. Auch im europäischen Kulturraum gehören Großfamilien unabhängig davon jedoch zu den resilientesten Strukturen überhaupt. Solche Familien stärken zudem die Resilienz eines Gemeinwesens, weil sie eine Solidarstruktur darstellen, die auch dann verfügbar ist, wenn staatliche Institutionen ausfallen oder überlastet sind. Je mehr Menschen Teil einer intakten Familienstruktur sind, desto geringer sind die Lasten, die ein Gemeinwesen in Krisenzeiten zu tragen hat, und desto mehr Menschen überstehen solche Zeiten unbeschadet.
Bereits der frühchristliche Philosoph Clemens von Alexandrien (ca. 150-215) beobachtete, dass ein Mangel an intakten Familien ein Gemeinwesen entscheidend schwäche. Wo es zu wenige intakte Familien gebe, gebe es auch einen “Mangel an Männern”, was in Krisensituationen zum “Untergang der Städte und der aus diesen bestehenden bewohnten Welt” führen könne. Für Christen sei dies nicht akzeptabel, da diese die Schöpfung zu bewahren hätten.3
Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio bezeugte die zeitlose Gültigkeit dieser Beobachtung, als er 2005 die Bedeutung der Familie für die Resilienz des Gemeinwesens betonte. Die Zukunft westlicher Gesellschaften werde davon abhängen, dass “viele junge Menschen in einer glücklichen Umgebung zur Welt kommen und aufwachsen, freiheitliche und vitale Werte, moralische Kompetenz erlernen, Lebensklugheit, Tradition und Geschichte, Religion und Würde schon früh kennen lernen”.4
Kurz vor seinem Tod prognostizierte der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, dass angesichts der von utopischen, materialistischen Ideologien erzeugten Verwerfungen die Bedeutung der Familie langfristig wieder zunehmen werde. Es werde in den “Jahren der Umwälzungen das größte Geschenk sein, sich in einem guten Elternhaus geborgen zu wissen”. Dieses werde “der feste Schutzwall sein gegen alle äußeren und inneren Gefahren”.5
Der Dichter Rainer Maria Rilke drückte dies mit den folgenden Worten aus:
“Denn sieh: sie werden leben und sich mehren
und nicht bezwungen werden von der Zeit,
und werden wachsen wie des Waldes Beeren
den Boden bergend unter Süßigkeit.
Denn selig sind, die niemals sich entfernten
und still im Regen standen ohne Dach;
zu ihnen werden kommen alle Ernten,
und ihre Frucht wird voll sein tausendfach.
Sie werden dauern über jedes Ende
und über Reiche, deren Sinn verrinnt,
und werden sich wie ausgeruhte Hände
erheben, wenn die Hände aller Stände
und aller Völker müde sind.”6
Marxistische bzw. neomarxistische und postmoderne Ideologien lehnen die traditionelle Familie hingegen ab und bekämpfen sie. Friedrich Engels zufolge sei der erste Klassenkampf in der Geschichte der zwischen Mann und Frau gewesen.7 Der in der 68er-Bewegung stark rezipierte Psychoanalytiker Wilhelm Reich bezeichnete die Familie als die “zentrale reaktionäre Keimzelle”, weil sie Triebunterdrückung fördere.8 Der noch einflussreichere Philosoph Max Horkheimer bezeichnete die Familie als “Keimzelle des Faschismus”. Indem ein Kind seine Eltern mit “seinem Herzen lieben lernt”, lerne es auch, das “bürgerliche Autoritätsverhältnis” anzuerkennen. Dies behindere das Wirken revolutionärer Ideologien, weshalb Horkheimer die Institution der traditionellen Familie überwiegend ablehnt.9 (FG3)

Quellen
“‘Der Staat wird heillos überfordert sein‘“, Münchner Merkur, 23.04.2022, S. 3.
Christa Sütterlin: “Ahnen, Götter und Helden. Warum wir Monumente brauchen”, SpektrumSpezial, Nr. 02/2017, S. 7-9.
Clemens von Alexandrien: Teppiche. Wissenschaftliche Darlegungen entsprechend der wahren Philosophie (Stromateis), München 1936, S. 252 ff.
Udo Di Fabio: Die Kultur der Freiheit, München 2005, S. 271-272.
Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Gütersloh 2016, S. 152.
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch, Berlin 2016, S. 79-80.
Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats, Stuttgart 1894.
Wilhelm Reich: Die Massenpsychologie des Faschismus, Kopenhagen 1933.
Max Horkheimer: „Autorität und Familie“, in: ders: Gesammelte Schriften, Band 3: Schriften 1931–1936, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2009, S. 336-420.