Kommentar

Brüssel wiegt sich in falscher Sicherheit

Der britische Premierminister Johnson tut so, als sei er an einer engen Anbindung an den europäischen Binnenmarkt gar nicht interessiert. Das ist mehr als populistisches Getöse. Die Briten gehen mit guten Gründen auf Distanz.

Peter Rásonyi
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Für EU-Verhandlungsführer Michel Barnier muss sich Grossbritannien entscheiden, ob es sich weiterhin an die EU-Regeln halten will oder nicht – davon werde das Ausmass an künftigem Freihandel abhängen.

Für EU-Verhandlungsführer Michel Barnier muss sich Grossbritannien entscheiden, ob es sich weiterhin an die EU-Regeln halten will oder nicht – davon werde das Ausmass an künftigem Freihandel abhängen.

Bild: Sean Gallup / Getty Images Europe

Man könnte es allzu leicht als populistische Wichtigtuerei vor heimischem Publikum abtun, was Boris Johnson am Montag in seiner Rede zur künftigen EU-Politik von sich gab: «Wir werden die volle souveräne Kontrolle über unsere Grenzen, die Zuwanderung, die Regeln des Wettbewerbs, der Staatshilfen und des öffentlichen Beschaffungswesens wiederherstellen.» Damit stellte sich Johnson diametral gegen die Forderungen Brüssels, das als Bedingung für ein Freihandelsabkommen die fortgesetzte enge Anbindung des Vereinigten Königreichs an just diese Regeln fordert.

Doch hinter Johnsons provokativen Ankündigungen steckt durchaus strategische Substanz. Grossbritannien tut gut daran, zum Auftakt der anstehenden Verhandlungen mit Brüssel über das künftige bilaterale Verhältnis selbstbewusst und distanziert aufzutreten. Zunächst ist das verhandlungstaktisch klug, denn wenn ein Land mit einem fast achtmal grösseren Block von 27 Ländern verhandelt, dann sollte es nicht schon von Anfang an Schwäche demonstrieren.

Johnson hat Zeit

Wichtiger ist aber das strategische Ziel der Unabhängigkeit Grossbritanniens. Bisher war unter den «Remainern» im Inland wie im Ausland allzu selbstverständlich angenommen worden, die Insel werde auf ein Handelsregime der engen Kooperation mit der EU angewiesen und damit leicht erpressbar sein. Es ist das Verdienst Johnsons bzw. seines Beraters Dominic Cummings, energisch an dieser trügerischen Selbstgewissheit zu rütteln. Zwar ist es richtig, dass 45 Prozent der britischen Exporte und 53 Prozent der Importe (Zahlen für 2018) über die EU-Grenze gehen. Entsprechend berechtigt sind Warnungen vor wirtschaftlichen Turbulenzen, Arbeitsplatzverlusten und kurzzeitigen Engpässen, sollten auf einen Schlag Grenzkontrollen, Zölle und andere Hemmnisse errichtet werden. Doch diese Sichtweise wird der langfristigen Dynamik wirtschaftlicher Prozesse nicht gerecht.

Zudem hat Premierminister Johnson Zeit. Da er im Dezember ein starkes Regierungsmandat errungen hat, muss er sich erst Ende 2024 wieder um seine Wiederwahl sorgen. Er kann sich folglich eine vorübergehende Wirtschaftsschwäche politisch leisten, sollten die Verhandlungen mit der EU bis Ende des Jahres scheitern. Dafür könnte er seinen Anhängern seine Logik des Brexits erklären: Soll der Brexit jenseits von fragwürdiger Symbolpolitik einen Sinn haben, dann muss Grossbritannien mehr Freiheit haben als in der Vergangenheit, für sich selbst passende Regeln und Regulierungen zu schaffen. Wozu denn sonst der dramatische Austritt, wenn sich danach möglichst nichts ändern soll?

Der Brexit muss scheitern

Die Verhandlungsführer und Politiker in der EU sollten deshalb die britische Entschlossenheit, einen eigenen Weg zu gehen, nicht unterschätzen und über die Folgen nachdenken. Wenn ein beidseits nützliches Handelsabkommen scheitert, dann hat das auch für die EU negative Konsequenzen: Der Handel wird auch für die Mitgliedländer beeinträchtigt werden. Die Kooperationsbereitschaft der Briten wird auf anderen Feldern, etwa in der Verteidigungspolitik, der Aussenpolitik oder der Forschung, leiden, zum Schaden der EU. Will die EU das Vereinigte Königreich durch eine harte Verhandlungspolitik tatsächlich in diese Ecke treiben?

Manche Anzeichen deuten darauf hin. Der EU-Verhandlungsführer Michel Barnier erklärte am Montag kühl, es sei ganz am Vereinigten Königreich zu entscheiden, ob es sich weiterhin an die EU-Regeln halten oder davon abweichen wolle – davon werde dann eben das Ausmass an künftigem Freihandel abhängen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte kämpferisch, die Kommission werde die Interessen der EU bis zum Letzten verteidigen. Hier wird wenig Kompromissbereitschaft demonstriert.

Was dahintersteckt, machte der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament, Manfred Weber, vergangene Woche in einem Interview mit der «Welt» deutlich: «Wenn der Brexit gefühlt zum Erfolg wird, dann ist das der Anfang vom Ende der EU.» Der Austritt aus der EU sei ein Fehler gewesen, fügte Weber an, deshalb müsse Grossbritannien dessen Folgen zu spüren bekommen. Der Brexit soll nach dem Kalkül von Brüssels zentralistischen Machtpolitikern also scheitern, um zweifelnde Mitgliedländer vor Nachahmung abzuschrecken.

So argumentiert keine starke und selbstbewusste Union, sondern ein Bündnis, das Angst um die eigene Zukunft hat. Warum stellt sich Brüssel nicht der Herausforderung eines unabhängigen Grossbritannien, das im Wettbewerb der Systeme erst noch beweisen müsste, ob es dadurch stärker oder schwächer wird? Warum begleitet die EU nicht das Experiment des britischen Alleingangs mit Interesse, weil es davon vielleicht für sich selbst etwas lernen und stärker werden könnte? Weil die EU-Führung selbst nicht in die eigene Stärke und Attraktivität vertraut. Dem Muskelspiel einer derart verängstigten Union widersetzt sich London zu Recht.

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