Labre
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1. ADVENTSSONNTAG: SODOMA UND GOMORRHA Vorbild des Endgerichtes über die Welt

Mit dem heutigen ersten Adventssonntag beginnt ein neues Kirchenjahr. Noch einmal - wie am vergangenen Sonntag - hallt das Sonntagsevangelium wie ein gewaltiger Donnerschlag in unser Leben hinein. Es schildert das Ende der Welt und die Ankunft Christi als Weltenrichter über die Lebenden und die Toten. Das Evangelium ist Erinnerung und Mahnung daran, dass alles ein Ende haben wird und dass dem Ende ein machtvolles Nachspiel folgen wird, nämlich das Weltgericht.
Die urchristliche Gemeinde war fest davon überzeugt, dass die Wiederkunft des Herrn nahe bevorstand. Vieles in ihrem Leben und in ihrer Haltung kann nur von diesem alles erschütternden Ereignis her verstanden werden. Wie ist es heute? Leider muss die Feststellung gemacht werden, dass das Bewusstsein von der Wiederkunft des Herrn in der Christenheit keine ernsthafte Bedeutung mehr hat. Sie wird - wenn überhaupt noch - als fernes, fast unwirkliches Ereignis wahrgenommen, so fern, dass man sie auf sich beruhen lässt, dass sie in die Vergessenheit zu versinken droht. Zudem hat sich das heutige Christentum in der Welt recht gut eingerichtet. Es ist als “christliche Kultur” über längere Zeit sogar zu einem Bestandteil dieser Welt geworden. Heute jedoch stirbt selbst diese christliche Kultur langsam im Bewusstsein und im Leben der Menschen - selbst der Christen -, so dass unserem christlichen Dasein jene Spannung fehlt, die die ersten Jahrhunderte erfüllte durch ihre erfrischende Strenge und durch die Hingabebereitschaft, selbst des eigenen Lebens.
Wir jedoch wollen uns von der urchristlichen Haltung - der Erwartung des kommenden Herrn - ein Beispiel geben und uns anregen lassen, über die Flüchtigkeit der Zeit und unseres Lebens nachzudenken und nach der Ewigkeit Ausschau zu halten, die unser harrt. Wir sollten uns dieser Prüfung unserer eigenen Lage nicht entziehen, sondern uns mutig der Frage stellen: wie habe ich meine Leben - die von Gott mir zugemessene Zeit - genutzt? Mit dem Propheten Daniel wollen wir demütig bekennen und Gott um gnädiges Erbarmen bitten:

“Herr, wir haben gegen Dich gesündigt und Deinen Geboten nicht gehorcht ... Verherrliche nun aber Deinen Namen und handle an uns nach der Fülle Deiner Barmherzigkeit!” (3,29.35)

Zugleich wollen wir aber Gott gegenüber auch unsere Bereitschaft, unseren guten Willen erklären, die uns noch verbleibende Zeit besser zu nützen, um zur ewigen Herrlichkeit zu gelangen. Ein Wort des hl. Apostels Paulus an die Gemeinde in Ephesus soll uns den Weg weisen. Es lautet:

“Sehet zu, dass ihr vorsichtig wandelt, nicht wie Toren, sondern wie Weise. Nützet die Zeit aus; denn die Tage sind böse” (5,15 f.).

Dass die Tage böse sind, auch hierzulande, wissen wir zur Genüg
e. Es gibt so viel Gottwidriges in der Welt, das an die Vorgänge in den alttestamentlichen Städten Sodoma und Gomorrha vor deren Untergang erinnert. Der Untergang dieser beiden Städte ist ein Vorbild des Endgerichtes über die Welt. Im Neuen Testament wird diese Geschichte fünfmal als Urbild der Letzten Dinge angeführt. Im Brief des Apostels Judas Thaddäus heisst es z. B.:

“So stehen Sodoma und Gomorrha und die umliegenden Städte, die auf ähnliche Weise wie sie Unzucht trieben und unnatürlicher Wollust nachgingen, als Beispiele da. Sie erleiden die Strafe ewigen Feuers” (Vers 7).

Und im zweiten Brief des hl. Apostel Petrus heisst es u. a.:

“Wenn nämlich Gott ... die Städte Sodoma und Gomorrha in Asche gelegt und zur Zerstörung verurteilt und sie damit zum warnenden Beispiel für künftige Frevler hingestellt hat ..., so folgt daraus: Der Herr weiss Fromme aus der Versuchung zu erlösen, Ungerechte aber für den Gerichtstag zur Bestrafung aufzubewahren, besonders jene, die in unreiner Begierde der Fleischeslust nachjagen ...” (2,4.6.9-10).

Was war denn geschehen? Am Abend, bei Anbruch der Dunkelheit - dies hat symbolischen Charakter - also in letzter Stunde, erhält Sodoma den Besuch der Boten Gottes, zwei Engel, die zu Lot, dem Gerechten, gesandt sind, um ihn vor dem Untergang zu bewahren. Es ist das letzte Anerbieten der Gnade Gottes, das dieser verworfenen Stadt gewährt wird. Aber Lot erweist sich als einziger gottesfürchtig und wird gerettet. Bei den übrigen Bewohnern der Stadt bewirkt das Erscheinen der Engel das Umgekehrte. Sie ergreifen nicht das Gnadenangebot, sondern sie wollen sich in frevelhafter, sexueller Absicht an den Boten Gottes selbst vergreifen. Was durch die abendliche Stunde als Finsternis dargestellt wird, wird nun durch das Erscheinen der göttlichen Lichtgestalten zur äussersten Finsternis.
Und wiederum ist es gleichnishaft, dass die Sodomiter die himmlische Schönheit der Engel nicht zu erkennen vermögen. Ja sie werden so sehr mit Blindheit geschlagen, dass sie die Tür von Lots Haus, die sie mit Gewalt öffnen wollen, nicht mehr finden können. Und so, wie die Bewohner Sodomas und Gomorrhas ihre Hände in frevlerischer Absicht nach den Engeln des Herrn ausgestreckt hatten - die äusserste Finsternis also nach dem Licht gegriffen hatte -, war es um die Städte geschehen, war ihre Frist abgelaufen.
Nach dem zweiten Brief des hl. Apostels Paulus an die Thessalonicher wird sich der gleiche Vorgang am Ende der Zeit, vor dem Untergang der Welt, wiederholen. Die Finsternis wird überhandnehmen, und es wird die Stunde kommen, da

“der Mensch der Gesetzlosigkeit, der Sohn des Verderbens” (2 Thess 2,3)

sich selbst in den Tempel Gottes setzen und nach der Würde der Gottheit die Hände ausstrecken wird. Dieser Sohn des Verderbens ist gleichsam die Inkarnation Satans, der durch ihn sichtbar wird, der Antichrist:

“Ihn wird der Herr Jesus töten mit dem Hauch Seines Mundes und vernichten durch den Glanz Seiner Wiederkunft” (2 Thess 2,8).

Es wird also sein wie in Sodoma oder wie beim Untergang der Stadt Jerusalem. Wenn nämlich die Finsternis äusserste Finsternis wird - dies ist eine biblische Ausdrucksweise -, indem sie sich an dem Heiligtum Gottes, am Licht vergreift, führt sie selbst ihren Untergang herbei.
Lot erhält den Befehl, aus der Stadt ins Gebirge zu fliehen und nicht mehr zurückzuschauen. Der Evangelist Lukas bezieht sich bei der Schilderung der Endzeit ausdrücklich auf Lot:

“An dem Tage aber, da Lot von Sodoma wegzog, regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und vertilgte sie alle - geradeso wird es sein an dem Tage, da der Menschensohn sich offenbaren wird. Wer an jenem Tage auf dem Dache ist und seine Sachen im Hause hat, der steige nicht hinab, um sie zu holen; und wer auf dem Felde ist, der kehre ebenfalls nicht zurück. Denkt an die Frau Lots!” (17,29-32)

So ist das Verlassen der Stadt hinbezogen auf das Endgericht. Nicht die Rettung irdischen Besitzes soll uns, die wir in den letzten Zeiten leben, am Herzen liegen, sonst könnte solches Um- und Zurückschauen uns erstarren lassen wie Lots Weib, festgehalten in einer Welt der Vergänglichkeit und Verlorenheit, und damit dem Untergang geweiht. Unser ganzes Sinnen soll ungeteilt auf das grössere Gut gehen, auf das Leben in der anbrechenden Ewigkeit, dessen Morgenröte bereits sichtbar ist; denn die Zeichen sind da.
Der hl. Apostel Paulus erklärt uns im bereits genannten Brief an die Epheser, wie wir uns in dieser Zeit zu verhalten haben, worin unsere Weisheit bestehen soll:

“Seid nicht unverständig, sondern verstehet, was der Wille Gottes ist.”

Die grösste Dummheit und Verantwortungslosigkeit, die man auf dieser Lebensreise begehen kann, ist es, nicht dem Willen Gottes, sondern seinem eigenen - den Trieben und Leidenschaften - zu folgen. So geht man auf einer äusserst gefährlichen Strasse, die nicht zum Ziele, sondern in das Verderben, in den Untergang führt. Denn der einzige Weg, der in die Herrlichkeit Gottes führt, ist der des Willens Gottes. Wer ihn ehrlich sucht und danach lebt, statt sich vom eigenen Willen verführen zu lassen, ist geleitet vom Heiligen Geist; und so kann er sicher sein, nicht in die Irre zu gehen.
Wenn wir uns so vom Heiligen Geiste leiten lassen, nimmt Er uns in Besitz und durchdringt uns. Aus dieser Fülle des Heiligen Geistes erwächst unwillkürlich der Geist des Gebetes, erstarkt auch die Tugend, die demütige Unterwerfung unter Gottes gütige Hand und die brüderliche Eintracht. Im Willen Gottes lebend, geleitet vom Heiligen Geiste: dies ist der schnellste und sicherste Weg zum himmlischen Vaterland.
Mit einem einmalig schönen Gebet des Klemens von Alexandrien (geb. etwa 140/150), von dem man spürt, dass es nicht vom Schreibtisch her, sondern aus einem wahrhaft betenden Herzen stammt, wollen wir die vorgelegten Gedanken beenden:

“Sei Deinen Kindern gnädig, o göttlicher Meister, Vater, Herr. Gewähre uns, Deine Gebote zu beobachten, Dein Bildnis widerzuspiegeln und nach unseren Kräften Deine Güte und nicht die Strenge Deiner Gerichte zu erfahren. Gewähre uns, alle in Frieden zu leben und eingelassen zu werden in Dein Reich, nachdem wir ohne Schiffbruch die Fluten der Sünde passiert haben. Heiss alle Winde schweigen und lass uns durch den Heiligen Geist, der die unsagbare Weisheit ist, getrieben und durch Ihn geleitet werden Nacht und Tag, bis zum Tage der Vollendung. Gewähre uns in der letzten Stunde, dankend zu beten und betend zu danken, dem einzigen Vater und dem Sohne, dem Sohne und dem Vater, dem Sohne als unserem Erzieher und Meister mitsamt dem Heiligen Geiste.”

Quellenhinweis:

▸ P. Gabriel a S. Maria Magdalena OCD, Geheimnis der Gottesfreundschaft, Bd. III, Herder 1958; Lizenzausgabe Lins-Verlag, Feldkirch
▸ Guardini R., Der Herr, Basel 1944, 4. Aufl.
▸ Spämann Heinrich, Die kommende Welt, Düsseldorf 1963

BILD: Endgericht, Rogier van der Weyden (* 1400, Tournai, + 1464, Bruxelles)