Lilien Dorner
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Der Jünger den Jesus liebte

Beschreibung und Verstehen der Ikone "Johannes der Evangelist an der Brust des Herrn"

Johannes der Evangelist an der Brust des Herrn

Die abgebildete Ikone aus einer mittelrussischen Ikonostase um 1700 hatte ihren ursprünglichen Ort hoch über der königlichen Tür, deshalb auch ihre halbrunde Beugung. Dennoch schaut der Betrachter von oben auf das Geschehen des Abendmahles, wie es in Joh 13,21-26 berichtet wird.

Christus sitzt inmitten der Apostel und spricht den Segen. Zu seiner Rechten erhebt sich Johannes als einziger der Apostel, tief niedergebeugt seinem Herrn zugeneigt. Das Rot seiner Gewandung, das ihn vor den anderen Aposteln auszeichnet, mag die Kraft seines brennenden Herzens verdeutlichen. Der Sinn dieser Gestalt wird in seinem Antlitz sichtbar, einer selten so offenbar werdenden Einheit von Lauschen und Erkennen. Er wendet sich an der Brust seines Herrn ihm zu, wie dieser dem Herzen seines Vater zugetan ist. So strahlt das Antlitz des Jüngers in innerer Erfülltheit auf. Denn das beim Herrn Gehörte ist ihm zum Strahl eigener Erkenntnis geworden, mit der er sich dem Geheimnis des Sohnes zu öffnen vermag. Im Erahnen solcher Erkenntnis heißt es in der byzantinischen Stundenliturgie zum Fest des Evangelisten am 26. September:

Wahrhaftig hast du dich als großer Freund des Meisters Jesus Christus erwiesen, da du an seiner Brust ruhtest. Dort empfingst du die heilige Lehre, mit der du die ganze Welt als gottströmendes Wort (theologos) reich machtest. Da die Kirche diese heilige Lehre bewahrt, frohlockt sie jetzt voll Freude.

Wer die innere Erfahrung der Propheten, Psalmisten, Evangelisten, Theologen und Heiligen betrachtet, wird bei ihnen seine eigene Erfahrung wiederfinden. So nimmt er ihr Wort mit bereitem Herzen innerlich in sich auf gleich einer geheimnisvollen »Empfängnis« und »Inkarnation« des göttlichen Wortes im eigenen Leben. Ähnlich verhält es sich im Betrachten einer Ikone, die als gemalter Name Gottes zu einem Sakrament im Schauen wird: Rein ästhetisch betrachtet, wird sie sich kaum erschließen; wer sie jedoch mit gläubigem Herzen anblickt, den führt sie in die Begegnung mit dem Abgebildeten. Versteht das Geheimnis des Menschensohnes wie auch die Mysterien seines Lebens doch nur, wer mit Maria in aller Demut Gottes Wort empfängt und es wie Johannes mit reinem Herzen bewahrt.

(Quelle: heilig-kreuz-rheingau)