Santiago_
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Stimme Gottes oder des Ichs?

Das Gewissen bei Thomas von Aquin, John Henry Newman und in der Moderne

Von Oliver Maksan

Der Rekurs auf das Gewissen hat Hochkonjunktur. Paradoxerweise verhält sich dies spiegelbildlich zu einer relativistischen Gesellschaft und deren ethischer und weltanschaulicher Fragmentierung.

Einen Gegenentwurf zum modernen Subjektivismus präsentierte der Paderborner Philosoph Berthold Wald am Samstag in der Katholischen Akademie in Berlin mit der Gewissenslehre des heiligen Thomas von Aquin. Er legte dar, dass Thomas dem Begriff des Gewissens gar keinen zentralen Platz in seinem ethischen System einräumt. Dort steht eher die lex naturalis, das Gesetz des von Natur aus Richtigen. Der strenge objektive Geist der Scholastik drückt sich auch im Fehlen jeglichen Pathos aus wie „Das Gewissen ist die Stimme Gottes“. Vielmehr, so Wald, hätte Thomas gesagt, dass uns im Gewissen das göttliche Gebot erreiche.

Der Aquinate unterschied im Gewissensbegriff zwei Momente: Das Urgewissen und das Situationsgewissen, wie man dem Thomasinterpreten Josef Pieper folgend synderesis und conscientia übersetzen kann. Das Urgewissen ist gewissermaßen der Sensor, der es erlaubt, im Horizont des Ursatzes aller Ethik zu handeln: Das Gute ist zu tun, das Böse ist zu lassen. Diese rein formalen, noch keine inhaltliche Bestimmung aufweisenden Imperative seien notwendig anzunehmen, so Wald, denn wer nichts wisse, könne auch nichts suchen. Auf dieser Ebene sei das Gewissen tatsächlich irrtumslos. Die Irrtumsanfälligkeit liegt indes auf der Ebene des Situationsgewissens, da dieses nicht naturhaft sei, sondern erst gebildet werden müsse. Und hier seien es vor allem unsere Leidenschaften, die die Urteilsbildung behindern und eine mangelndes Ausrichtung an der Sache aufgrund unsererEigeninteressen.

Doch warum bindet das Gewissen? Weil es meines ist, wie der Zeitgenosse sagen würde? Nein, meinte Wald, denn so würde nichts erklärt. Vielmehr setze ein Gebundensein ein von uns verschiedenes Bindendes voraus. Das Gewissen ist demnach nicht der Ursprung der Bindung, sondern der Ort, wo diese erkannt wird. Bindet indes auch ein irrendes Gewissen? Für Thomas eindeutig ja, unterstrich Wald. Wer gegen sein Gewissen handelt, der sündigt. Das reiche selbst so weit, dass, wer erkannt haben will, dass Christus nicht der Messias sei, im Gewissen verpflichtet sei, diesen Glauben abzulehnen. Er sei damit im dreizehnten Jahrhundert ziemlich allein gestanden. Bonaventura etwa habe argumentiert, dass etwas in sich Schlechtes nicht binden könne, da das göttliche Gebot den Vorrang habe. Thomas hingegen habe dagegen eingewandt, dass so die Wurzel, wodurch Sittlichkeit werde, zerstört würde.

Die Verpflichtung durch das Gute sei so nicht mehr denkbar, bestenfalls ein äußerer Gehorsam gegen Gottes Gebot. Wenn gegen das Gewissen zu handeln also immer schlecht sei, gelte dann auch der Umkehrschluss, dass das Handeln nach dem irrenden Gewissen immer gut sei? Nein, betonte Wald, für Thomas liege hier eine Asymmetrie vor. Ein irriges Gewissen binde per accidens, also zufällig und nicht aus sich heraus. Es verpflichte in der Kraft des rechten Gewissens.

Wald attestierte Thomas eine in sich völlig schlüssige und konsistente Position. Ob sie auch wahr sei, hänge vor allem daran, ob Thomas‘ Sicht auf die Wirklichkeit wahr sei und diese als Schöpfung Gottes, das heißt naturrechtlich objektiv verstehbare begriffen werden könne. Eine Lesbarkeit, die für den seligen Kardinal John Henry Newman im englischen 19., vom Empirismus geprägten Jahrhundert nicht mehr gegeben ist. Der Speyrer Newman-Kenner Georg Müller führte aus, dass das Gewissen bei dem großen Konvertiten vom Anglikanismus zum Katholizismus von zwei Aspekten geprägt sei: dem „moral sense“ und dem „sense of duty“. Beide gehörten untrennbar zum Phänomen des Gewissens, ließen sich aber sauber unterscheiden.

Mit dem moralischen Sinn seien konkrete sittliche Imperative gemeint, während der Pflichtsinn ihr unbedingtes Gebotensein betont. Gerade diesen musste Newman gegenüber der aufklärerischen Tradition Englands stark machen, wollte er nicht die Moral auf ein Gefühl reduziert sehen. Der Pflichtsinn ist es dann auch, der Newman eine Brücke zu Gott baut. Er ist das „schöpferische Prinzip der Religion“, denn er ist der Zugang zu Gott als dem, der der eigentlich Fordernde ist. So verstanden gehört das Gewissen zu den Voraussetzungen, damit wir erklären können, „wie wir ein Bild von Gott gewinnen und dem Satz, dass Er existiert, eine reale Zustimmung geben“.

Müller zitierte aus einer Universitätspredigt Newmans aus dem Jahre 1830: „Der Begriff des Gewissens setzt eine Beziehung voraus zwischen der Seele und etwas, was außer ihr, ja mehr noch, was über ihr, ist; eine Beziehung zu einer Vollkommenheit, die sie selbst nicht besitzt, und zu einem Tribunal, über das sie keine Macht hat.“ Gerade der Prediger Newman trat mit seiner Gewissenslehre dem liberalistischen Geist seiner Zeit gegenüber, im Gewissen nur den Zugang zu sich selbst und den eigenen Beweggründen zu sehen, den „Instinkt reinen Wohlwollens“, und nicht mehr den Richtenden über sich.

Der irische Moraltheologe und Ratzingerschüler Vincent Twomey nahm diesen Faden auf und spann ihn in die kirchliche Gegenwart hinein weiter. Gerade in der Königsteiner Erklärung der deutschen Bischöfe nach dem Erscheinen der Enzyklika Humanae Vitae 1968 machte er einen falschen Begriff vom Gewissen aus. Gewissen werde dort verstanden als eine subjektive Größe, wo die äußerliche Lehre bestenfalls einen Ratschlag anbieten könne, der entweder angenommen oder verworfen wird. Dahinter stehe, dass man das Vorhandensein in sich schlechter Handlungen leugne. Daraus sei eine Pflichtmoral entstanden, die auf dem Kalkül basiere, die Vor- und Nachteile in einem konkreten Entscheidungsprozess ins Ermessen und die Abwägung des Einzelnen zu stellen. Dieses Kalkül wurde beschrieben als „verantwortungsbewusstes Gewissensurteil“ beziehungsweise „Gewissensentscheidung“ – Begriffe, die Twomey der Königsteiner Erklärung entnahm.

Die Konsequenzen eines derart subjektivistisch verkürzten Gewissensbegriff sah Twomey als dramatisch an: „Die Verleugnung der Existenz in-sich-schlechter Handlungen gleicht letzten Endes der Verleugnung einer gemeinsamen Menschennatur und der daraus resultierenden moralischen Ordnung, die wir Naturgesetz nennen, von dem das Urgewissen und die Offenbarung beziehungsweise die kirchliche Lehre in Sachen Moral auf je verschiedene, aber sich gegenseitig ergänzende Weise Zeugnis ablegen.“

[© Die Tagespost vom 3.2.2011]