Nicky41
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"Der Wolf von Gubbio” Erzählt nach den Fioretti, einer Legendensammlung des 14. Jahrhunderts

Etwas wunderbares, was des rühmenden Andenkens würdig ist, geschah bei der Stadt
Gubbio. Da gab es nämlich zu Lebzeiten des seligen Vaters Franz in der Umgebung der
Stadt einen Wolf von schrecklicher Größe. In seinem Hunger war er von grimmiger
Wildheit, und verschlang nicht nur Tiere, sondern auch Männer und Frauen, so dass
sich niemand mehr getraute, unbewaffnet die Stadtmauern zu verlassen.

Eine solche
Panik hatte alle befallen, dass sich trotz der Waffen kaum einer sicher fühlte, wenn er
über (...) die Stadt hinaus gehen musste.

Der selige Franz, der gerade nach Gubbio kam, empfand Mitleid mit den Leuten und
beschloss, dem Wolf entgegenzutreten.
Die Bürger sprachen zu ihm: “Hüte dich, Bruder Franz, über das Stadttor hinauszugehen: der Wolf, der schon viele gefressen hat,
wird dich jämmerlich töten.”

Der heilige Franz aber setzte seine Hoffnung auf den
Herrn Jesus Christus, und so schritt er, nicht mit Schild und Helm gewappnet, sondern
unter dem Schutze des heiligen Kreuzzeichens, mit einem Gefährten vor das Stadttor
und ging ohne Furcht dem Wolf entgegen.

Und siehe, angesichts der vielen Menschen, die von erhöhten Orten aus zuschauten,
rannte der schreckliche Wolf mit offenem Rachen auf den heiligen Franz und seinen
Gefährten zu. Der selige Vater aber machte über diesen das Zeichen des Kreuzes, und
die göttliche Kraft, die von ihm wie von dem Gefährten ausging, zähmte den Wolf: er
hielt plötzlich inne und der schaurig aufgesperrte Rachen schloss sich. Franz rief ihn
her und sprach: “Komm zu mir, Bruder Wolf! Im Namen Christi befehle ich dir, weder
mir noch sonst jemandem einen Harm zu tun!” Und wunderbar, auf das Kreuzzeichen
hin schloss das Untier den wilden Rachen, und wie der Heilige ihm geboten, kam es
gesenkten Kopfes heran und legte sich gleich einem Lamm zu seinen Füßen.

Wie er so vor ihm dalag, sprach der heilige Franz: “Bruder Wolf, du richtest viel Schaden in dieser Gegend an und hast schlimme Übeltaten verbrochen, da du Gottes Geschöpfe erbarmungslos umgebracht hast. Und nicht nur Tiere tötest du, sondern, was
noch schlimmer ist, du wagst es, Menschen, nach Gottes Bilde geschaffen, umzubringen
und zu verschlingen! Darum verdienst du, dass man dich als Räuber und bösen Mörder
einem schrecklichen Tod überliefert. Alle klagen mit Recht über dich und sind dir böse,
und die ganze Gegend ist dir feind. Aber jetzt, Bruder Wolf, will ich zwischen dir und
den Leuten Frieden stiften. Es darf keinem mehr ein Leid von dir geschehen, und sie
sollen dir alle vergangenen Missetaten erlassen, und weder Menschen noch Hunde sollen dich weiter verfolgen.”

Da gab der Wolf zu erkennen, dass er auf den Vorschlag einging, worauf der Heilige
mit seiner Rede fortfuhr: “Weil du damit einverstanden bist, diesen Frieden zuschließen, verspreche ich dir: Ich will dir, solange du lebst, durch die Leute dieser Gegend deine tägliche Kost verschaffen. Du wirst keinen Hunger mehr leiden müssen;
denn ich weiß sehr wohl, du tust alles Schlimme nur vom Hunger getrieben. Aber du
musst mir versprechen, dass du nie wieder einem Tier oder Menschen ein Leid zufügst.
Versprichst du das?” Der Wolf gab durch Kopfnicken deutlich zu erkennen, dass er
einverstanden sei, und legte dem heiligen Franz zum Zeichen seiner Treue seine Tatze
in die Hand.

Zuletzt sprach der Heilige: “Bruder Wolf, nun komm ohne Bangen mit mir zu den Häusern der Menschen, damit wir im Namen des Herrn diesen Frieden besiegeln!” Und der
Wolf gehorchte und folgte dem heiligen Franz gleich einem sanften Lamme. Wie das
die Leute sahen, waren sie aufs höchste verwundert und liefen alle, Männer und
Frauen, groß und klein auf dem Marktplatz zusammen, wo sich der Heilige mit dem
Wolf befand. Vor der Menge des Volkes sagte der heilige Franz: “Höret denn, meine
Lieben, dieser Bruder Wolf, der vor euch steht, hat mir versprochen, dass er Frieden
mit euch schließen will. Niemandem von euch wird er ein Leides tun, sofern ihr ihm
versprecht, für seinen täglichen Unterhalt aufzukommen. Ich verbürge mich für Bruder Wolf, dass er den Friedensvertrag getreulich achten wird.”

Da versprachen alle Versammelten mit lautem Zuruf, sie wollten fortan den Wolf
ernähren. Und der Wolf lebte noch einige Jahre und ließ sich von Tür zu Tür die Nahrung geben, ohne jemand ein Leid zu tun; und auch die Leute taten ihm nichts und
fütterten ihn freundlich. Und sonderbar, nie bellte ein Hund gegen ihn.

Schließlich starb Bruder Wolf an Altersschwäche. Die Bürgersleute waren über seinen Tod sehr traurig. - A laude di Cristo. Amen.
michael7
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