Tina 13
1942

MARIA BRICHT VOR DER TÜR DES ABENDMAHLSSAALS ERNEUT ZUSAMMEN

MARIA BRICHT VOR DER TÜR DES ABENDMAHLSSAALS ERNEUT ZUSAMMEN

»Nur Mut! Wir sind schon da.«

»Schon da? So kurz ist der Weg, der mir heute morgen endlos erschien? Heute morgen? Ist es wirklich heute morgen gewesen? Nicht früher? Wie viele Stunden oder wie viele Jahrhunderte sind vergangen, seit ich gestern Abend hier eingetreten und heute früh von hier fortgegangen bin? Bin ich es wirklich, die fünfzigjährige Mutter, oder bin ich eine hundertjährige Alte, eine noch ältere Frau mit hunderten von Jahren auf dem gebeugten Rücken und auf dem ergrauten Haupt? Es scheint mir, dass ich allen Schmerz der Welt erlitten habe und dass aller Schmerz auf meinen Schultern lastet und sie beugt unter seinem Gewicht. Kein materielles Kreuz, aber so schwer! Ein Kreuz aus Stein. Vielleicht noch schwerer als das meines Jesus. Denn ich trage das meine und das seine mit der Erinnerung an seine Qualen und der Wirklichkeit meiner Qualen. Gehen wir hinein. Denn wir müssen hineingehen. Aber es wird kein Trost sein, sondern nur Vermehrung der Qual. Durch diese Tür ist mein Sohn eingetreten zu seiner letzten Mahlzeit. Und durch diese Tür ist er hinausgegangen, um dem Tod entgegenzugehen. Und er musste seinen Fuß in die Fußstapfen seines Verräters setzen, der hinausgegangen war, um die Häscher des Unschuldigen zu rufen. An dieser Tür habe ich Judas gesehen . . . Judas habe ich gesehen! Und ich habe ihn nicht verflucht, sondern habe als betrübte Mutter zu ihm gesprochen. Betrübt wegen des guten und wegen des bösen Sohnes . . . Ich habe Judas gesehen! Den Satan habe ich in ihm gesehen! Ich, die ich immer Luzifer unter meiner Ferse zertreten, die Augen zu Gott erhoben und nie den Blick zu ihm gesenkt habe, ich habe sein Gesicht erkannt, als ich den Verräter ansah. Ich habe mit Satan gesprochen . . . Und er ist geflohen, denn er kann meine Stimme nicht ertragen. Ob er nun aus ihm ausgefahren ist? So dass ich mit diesem Toten reden und – ich, die Gebärerin – ihn durch das Blut eines Gottes erneut empfangen und der Gnade gebären kann? Johannes, schwöre mir, dass du ihn suchen und nicht grausam zu ihm sein wirst. Ich bin es nicht, obwohl ich ein Recht dazu hätte . . . Oh, lasst mich in den Saal hineingehen, in dem mein Sohn sein letztes Mahl eingenommen hat; in dem mein Kind seine letzten Worte in Frieden gesprochen hat.«

»Ja, wir werden hineingehen. Aber nun, sieh, komm hier herein, wo wir gestern waren. Ruhe dich aus. Verabschiede dich von Josef und Nikodemus, die sich zurückziehen.«

»Ich will mich verabschieden, ja. Oh, ich grüße sie. Ich danke ihnen. Ich segne sie!«

»Aber komm, komm. Dort kannst du es mit mehr Ruhe tun.« »

Nein, hier. Josef . . . Oh, ich habe niemanden dieses Namens kennengelernt, der mich nicht geliebt hätte . . . «

Maria des Alphäus bricht in heftiges Weinen aus.

»Weine nicht . . . Auch Josef . . . Dein Sohn hat nur aus Liebe gefehlt. Er wollte mir auf menschliche Weise Frieden verschaffen . . . Aber heute! . . . Du hast es gesehen . . . Oh, alle, die Josef heißen, sind gut zu Maria . . . Josef, ich danke dir. Und auch dir, Nikodemus. Mein Herz wirft sich zu euren Füßen nieder, die müde sind, weil ihr seinetwegen so viel gegangen seid . . . um ihm die letzten Ehren zu erweisen . . . Ich habe nichts als mein Herz, um es euch zu geben . . . Und ich gebe es euch, ihr treuen Freunde meines Sohnes . . . und . . . und verzeiht der armen Mutter, was sie euch am Grab gesagt hat.«

»Oh, Heilige! Du musst verzeihen!« sagt Nikodemus.

»Sei nun brav. Ruhe dich aus in deinem Glauben. Morgen werden wir wiederkommen«, fügt Josef hinzu.

»Ja, wir werden kommen. Wir stehen dir zu Diensten.«

»Morgen ist Sabbat«, bemerkt die Hausherrin.

»Der Sabbat ist tot. Wir werden kommen. Leb wohl. Der Herr sei mit euch.« Und sie gehen.

»Komm, Maria.«

»Ja, Mutter, komm.«

»Nein, macht auf. Ihr habt mir versprochen, es zu tun nach der Verabschiedung. Öffnet mir diese Türe! Ihr könnt das einer Mutter nicht verwehren. Einer Mutter, die in der Luft den Duft des Atems, des Körpers ihres Kindes riechen möchte. Wisst ihr denn nicht, dass ich ihm den Atem und den Leib gegeben habe? Ich, die ihn neun Monate getragen und dann geboren, genährt, aufgezogen und gepflegt habe? Dieser Atem gehört mir! Dieser Duft des Körpers gehört mir! Lasst ihn mich noch einmal einatmen.«

»Aber ja, Liebste. Morgen. Jetzt bist du müde. Du glühst vor Fieber. Jetzt kannst du nicht. Es geht dir schlecht.«

»Ja, schlecht. Aber nur, weil ich sein Blut immer vor Augen habe und den Geruch seines verwundeten Körpers rieche. Lasst mich den Tisch sehen, an dem er lebend und gesund gesessen ist, damit ich den Duft seines jugendlichen Körpers rieche. Öffnet! Begrabt ihn mir nicht ein drittes Mal! Ihr habt ihn mir schon unter dem Balsam und den Binden verborgen; dann habt ihr ihn mit einem Stein eingeschlossen. Warum, warum wollt ihr jetzt einer Mutter verweigern, die letzte Spur von ihm in dem Atem zu finden, den er hinter dieser Tür hinterlassen hat? Lasst mich hinein. Ich werde am Boden, auf dem Tisch und auf den Sitzen die Spuren seiner Füße und seiner Hände suchen. Und ich werde sie küssen, sie immer wieder küssen, bis meine Lippen wund werden. Ich werde suchen, suchen . . . Vielleicht finde ich ein Haar seines blonden Hauptes. Ein Haar, an dem kein Blut klebt. Wisst ihr überhaupt, was ein Haar des Sohnes für eine Mutter ist? Du, Maria des Klopas, und du, Salome, ihr seid Mütter. Und ihr begreift das nicht? Johannes! Johannes! Höre mich an. Ich bin deine Mutter. Er hat mich dazu gemacht. Er! Du bist mir Gehorsam schuldig. Öffne! Ich liebe dich, Johannes. Ich habe dich immer geliebt, denn du hast ihn geliebt. Ich werde dich noch mehr lieben. Aber öffne! Mach auf, sage ich! Du willst nicht? Du willst nicht? Dann habe ich also keinen Sohn mehr? Jesus hat mir nie etwas verweigert, denn er war mein Sohn. Du verweigerst es mir. Du bist es also nicht. Du verstehst meinen Schmerz nicht . . . Oh, Johannes! Verzeih, verzeih . . . Öffne . . . Weine nicht . . . Öffne . . . Oh, Jesus! Jesus! . . . Höre mich an . . . Dein Geist möge ein Wunder wirken! Öffne du deiner Mutter diese Tür, die keiner aufmachen will. Jesus! Jesus!«

Maria schlägt mit den zu Fäusten geballten Händen an die wohlverschlossene Tür. Sie ist außer sich vor Schmerz. Bis sie schließlich erbleicht und flüstert: »Oh, mein Jesus, ich komme! Ich komme!« Sie fällt kraftlos in die Arme der weinenden Frauen, die sie auffangen, um zu verhindern, dass sie an der Schwelle der Tür zusammenbricht, und sie in das Zimmer gegenüber tragen.

aus: Maria Valtorta, Der Gottmensch Band XI
Tina 13
🙏🙏🙏