Guntherus de Thuringia
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Gewalt im Namen des Christentums?

Oft wird behauptet, alle Religionen schürten Konflikte und legitimierten Gewalt. Dirk Ansorge, Professor für Dogmatik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main, beeinsprucht das. Ein genauerer Blick auf gewaltlegitimierende und gewaltkritische Traditionen des Christentums legt eine andere Einschätzung nahe.

Von Dirk Ansorge

Stimmen der Zeit 142 (2017) 39-48, Lesedauer: ca. 15 Minuten

„Religion scheint das einzige Mittel zu sein, das dem Menschen gegeben wurde, Gewalt – soziale und politische – einzudämmen und ihr nicht Gegengewalt, sondern eine andere Macht entgegenzusetzen.“1

Spätestens seitdem die Attentäter vom 11. September 2001 beanspruchten, im Namen des Islam zu handeln2, steht diese Religion unter dem Verdacht einer besonderen Neigung zur Gewalt. Weltweit haben sich in den zurückliegenden Jahren zahlreiche Kongresse und wissenschaftliche Publikationen dieser Vermutung gewidmet – mit teils sehr unterschiedlichen Ergebnissen.

Doch nicht nur der Islam wird verdächtigt, Gewalt zu legitimieren. In seinem Buch „Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus“ (2003) hat der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann die seither viel diskutierte These formuliert, wonach den monotheistischen Religionen insgesamt ein exklusiver Wahrheitsanspruch inhärent ist. Ihm gegenüber muss jede Abweichung als Irrtum oder Lüge erscheinen, die es – wenn nötig, gewaltsam – auszumerzen gilt3. Noch weiter reicht die Ansicht, ausnahmslos alle Religionen schürten Konflikte und legitimierten Gewalt4. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass inzwischen auch das Verhältnis des Christentums zur Gewalt auf dem Prüfstand steht.

Das Christentum – eine Religion der Gewalt?

Bereits 1986 war der erste von zehn Bänden einer „Kriminalgeschichte des Christentums“ erschienen. Die darin von Karlheinz Deschner aufgelisteten Verfehlungen von Christen erregten weniger deshalb Aufsehen, weil sie zuvor unbekannt waren. Provokant erschien vielmehr seine These, wonach Christen in den zwei Jahrtausenden der Kirchengeschichte das im Neuen Testament begründete Ideal und Selbstverständnis des Christentums als einer Religion der Liebe und des Friedens nicht nur gelegentlich und ausnahmsweise, sondern ständig verfehlt hatten. Denn Christen hätten nicht nur im Rahmen der Kreuzzüge, der Inquisition oder der Hexenverfolgungen Gewalt ausgeübt, sondern auch in zahllosen weniger spektakulären Zusammenhängen.

An Deschners monumentale „Kriminalgeschichte“ erinnert das 2015 erschienene Buch von Philippe Buc: „Heiliger Krieg. Gewalt im Namen des Christentums“5. Der derzeit in Wien lehrende französische Historiker schlägt darin bisweilen atemberaubende Bögen von frühchristlichen Märtyrern über die Kreuzzüge bis hin zum Terror der „Rote-Armee-Fraktion“ und zu George W. Bush. Mit Blick auf die zweitausendjährige Geschichte des Christentums will er unter anderem zeigen, wie sehr sich aggressive Aktionen westlicher Staaten „dem Einfluss tiefsitzender christlicher Ideen von Freiheit, Reinheit, Universalismus, Märtyrertum und Geschichte verdanken, die noch bis vor kurzem in Westeuropa vorherrschend waren“6. Hilfreich für das Verständnis des ebenso kenntnisreichen wie herausfordernden Buches ist eine Präzisierung, die Buc in einem Interview vorgenommen hat: „Meine Fragestellung ist nicht, ob das Christentum Gewalt verursacht, sondern eher, wie das Christentum die Formen der Gewalt prägt.“7

Dabei geht es Buc auch um christliche Konzepte, die „den Weg in die Moderne überstanden haben, indem sie sich in Ideen und Ideologien verwandelten, die ohne das Übernatürliche und Gott auskamen, aber vergleichbare Strukturen beibehielten“. Mit Blick auf die Frage, wie solche Säkularisate heutige Formen von Gewalt prägen, kommt Buc nicht umhin, dem Christentum eine dualistische bzw. manichäistische Weltsicht zu unterstellen, wonach die Wirklichkeit in Gut und Böse unterschieden ist.

Tatsächlich wurden in der Geschichte des Christentums zur Legitimation von Gewalt vorrangig solche biblische Texte rezipiert, die dualistische Tendenzen aufweisen. Bis in die jüngste Vergangenheit wurden das Johannesevangelium und mehr noch die Offenbarung des Johannes immer wieder dahingehend beansprucht, kriegerisches Vorgehen oder Gewalt gegen politische Feinde und Andersgläubige zu rechtfertigen. Im apokalyptischen Kampf gegen den Satan oder das „Reich des Bösen“ schien – und scheint – nahezu jedes Mittel erlaubt.

Zweifellos kennt das NT eine Metaphorik des Kampfes – etwa wenn es um die Standhaftigkeit im Glauben geht. Und nicht zu bestreiten sind Tendenzen in frühchristlichen Märtyrerakten, die jeweiligen Peiniger herabzusetzen, sie bisweilen gar zu dämonisieren. Buc scheint aber den paränetischen Charakter der einschlägigen Texte ebenso zu übersehen, wie er die allegorischen Auslegungen beispielsweise des Buches Josua durch die Kirchenväter gegen deren Intention als Anstiftung zur Gewalt interpretiert.

Kritische Anmerkungen wie diese setzen sich freilich rasch dem Verdacht aus, christliche Apologetik betreiben zu wollen. Umgekehrt fällt es schon auf, dass Buc die Forschungen des international renommierten Münsteraner Kirchenhistorikers Arnold Angenendt zum Verhältnis von Christentum und Gewalt nirgendwo erwähnt. Angenendt bemüht sich in seiner voluminösen Monografie „Toleranz und Gewalt“8 unter anderem darum, gewaltsame Vorgänge in der Geschichte des Christentums historisch zu kontextualisieren. Mit Blick auf die Inquisition und auf die Hexenverfolgungen der Frühen Neuzeit gelangt er so zu überraschenden Einsichten, die oft gängige Klischees widerlegen. Im Gegensatz zu Buc betont Angenendt die deeskalierenden und pazifizierenden Traditionen des Christentums. Ist das nun historische Redlichkeit oder apologetische Verschleierung?

Erstaunlicherweise greift Buc auch die neuere Diskussion um die Beziehung zwischen Monotheismus und Gewalt, die Assmann 2003 mit seinem Mose-Buch ausgelöst hat, nicht auf. Dabei hätte er in Assmann wohl einen entschiedenen Befürworter seiner Dualismus-Theorie gefunden. Denn anders als die polytheistischen Religionen der altorientalischen Welt, so Assmann, erheben die biblischen Schriften mit dem Absolutheitsanspruch des einen und einzigen Gottes einen exklusiven Wahrheitsanspruch. Älter noch als der „Monotheismus der Wahrheit“ ist der „Monotheismus der Treue“. Beides wird nach biblischem Zeugnis immer wieder gewaltsam durchgesetzt. Wenngleich dabei nicht unbedingt historische Ereignisse überliefert werden, so bestimmen diese Geschichten doch die Identität Israels, indem sie seine Vergangenheit in Abgrenzung zu anderen Völkern konstruieren.

Allerdings halten nicht wenige Kritiker Assmanns Argumentation für fragwürdig9. Zwar lässt sich nicht leugnen, dass monotheistische Religionen die Geschichte ihrer Durchsetzung in Texten erinnern, die von Gewalt zeugen. Doch bleibt umstritten, unter welchen Bedingungen die Sprache der Gewalt in Taten umschlägt. Und selbst dann, wenn sich eine Religion im Besitz der einen Wahrheit wähnt, folgt daraus nicht zwangsläufig, dass sie allen anderen Religionen jegliche Wahrheitserkenntnis oder Heilsbedeutung absprechen muss. Ein Ethos universaler Gewaltfreiheit widerspräche sich selbst, suchte es sich gewaltsam Geltung zu verschaffen. Religionen schüren Intoleranz und religiöse Gewalt nicht schon durch ihren Universalismus, sondern erst dann, wenn sie zu Exklusivismus und Expansionismus tendieren. Beides folgt aber nicht notwendig aus dem Universalismus von Religionen, sondern leitet sich von den jeweils vertretenen religiösen Überzeugungen her.

Ambivalenz des Religiösen?

Zwar wird man nicht bestreiten können, dass im Namen von Religionen unzählige Kriege geführt, Völker versklavt und Zivilisationen ausgelöscht wurden.

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