Bernold Baer
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Hildegard von Bingen: Mahnung an die Schriftgelehrten

18. Warum Gott neue Geheimnisse und viel Mystisches,
das bisher verborgen war, durch einen Unberedten und Ungelehrten
gerade jetzt verkündet


Doch jetzt wankt der katholische Glaube bei den Völkern und das Evangelium lahmt bei diesen Menschen. Auch die dicken Bände, die die erfahrenen Lehrer mit viel Eifer erläutert hatten, lösen sich in schimpflichem Überdruss auf und die Lebensspeise der göttlichen Schriften ist schon fade geworden.

Daher spreche ich jetzt über die (Heiligen) Schriften durch einen unberedten Menschen,

der nicht von einem irdischen Lehrer belehrt wurde,

doch ich, der ich bin,
verkünde durch ihn neue Geheimnisse und viel Mystisches,


das bisher in den Büchern verborgen war, wie es auch ein Mensch macht, der zuerst Lehm für sich zurechtlegt und dann aus ihm jegliche Formen nach seinem Wunsch herausarbeitet.

19. Ermahnung Gottes an die Lehrer, diese Rede nicht zu verachten, sondern sie gleichsam als siegreiches Banner gegen den Sohn der Bosheit zu erheben

O ihr erfolgreichen Lehrer mit gutem Gewinn,

kauft eure Seelen frei
und ruft diese Worte laut aus und misstraut ihnen nicht!


Denn wenn ihr sie verschmäht, verachtet ihr nicht sie,
sondern mich, der ich wahrhaftig bin.


Ihr müsst nämlich mein Volk unter meinem Gesetz erziehen, da ihr für es Sorge tragt bis zur vorherbestimmten Zeit seiner Heilung, wenn alle Sorge um jegliche Mühsal vergehen wird.

Doch von der jetzigen Zeit an habt ihr Zeiten der im Voraus festgelegten Zeitabschnitte, die auf jene Zeit zulaufen,

in der der Sohn des Verderbens kommen wird.

Kommt also zu Kräften und seid stark, meine Auserwählten, und hütet euch sehr, damit ihr nicht in die Schlinge des Todes fallt.

Erhebt vielmehr das Banner dieser Reden

und stürzt euch auf den Sohn des Verderbens.

Denn inmitten des Irrtums jener Wege, die dem Sohn des Verderbens, den ihr den Antichrist nennt, vorausgehen und nachfolgen,

geht (ihr Lehrer) in der Spur dessen, der euch den Weg der Wahrheit gelehrt hat, als er im Fleisch auf Erden in tiefer Demut erschien

und nicht mit Stolz.

Hört also und versteht!

20. Worte des Geistes an die Kirche über die Endzeit
Der Geist spricht nämlich zur Kirche über die Zeit des letzten Irrtums.


Der Tod wird auf die Kirche losstürmen zu der Stunde, wenn am Ende der Zeiten der Verfluchte der Verfluchung kommen wird; er ist der Fluch der Flüche,

wie mein Sohn im Evangelium über die Stadt des schlimmsten Irrtums bezeugt, wenn er spricht.

(21. Das Evangelium über dasselbe Thema)
Und du Kaphamaum, wirst du dich etwa in den Himmel erheben?
Bis zur Unterwelt wirst du hinabsteigen (Mt 11,23).

Das ist so: O du Höhle der Bosheit, du bist eine verborgene Grube und hast Flügel der Verstellung von Heuchlern. Wie könntest du auf der Höhe der Mauer stehen, da dein Auge auf die Schlechtigkeiten der Laster blickt, die das brennende Licht im Kot verbergen und sagen:

„Wer gleicht an Verstellung dem Verwandtenmörder“,

den die Törichten zum Herrscher ernennen?


Wirst du etwa mit Wunderzeichen den Himmel erringen, wenn du deinen Finger in die Unterwelt tauchst? Wieso?

Deine Werke werden dem Grund der Hölle zustreben, von deren Gefräßigkeit verschlungen du darniederliegen wirst, sodass auch die Hölle jenen Gestank ausspeien wird, in dem die Welt am Verderber der Verderbnis die Bitterkeit des Todes sehen wird.

Quelle:
Hildegard von Bingen “Wisse die Wege“; Ausgabe Beuroner Kunstverlag;
4. Auflage 2018; “Die 11 Vision des 3. Teils“; Seiten 493-494