Guntherus de Thuringia
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[71] Das Leben Jesu nach den vier Evangelisten

22. Die Stillung des Sturmes auf dem See

(Luk. 8, 22-25; Mark. 4, 35-40; Matth. 8, 18-20. 23-27)

[ Eugène Delacroix (1853): Jesus schläft während des Sturms ]

An jenem Tage sagte Jesus, als es Abend geworden war, zu seinen Jüngern: „Lasst uns über den See ans andere Ufer fahren.“ Da trat ein Schriftgelehrter hinzu und sprach zu ihm: „Meister! ich will dir folgen, wohin du immer gehst.“ Jesus sprach zu ihm: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel Nester; der Menschensohn aber hat nicht, wohin er sein Haupt lege.“ Die Jünger entließen nun die Volksschar, stiegen ins Schiff, nahmen ihn mit, so wie er im Schiffe war, und stießen ab. Auch noch andere Schiffe begleiteten ihn. Während sie dahinschifften, schlief Jesus ein. Da entstand ein gewaltiger Sturmwind, fuhr nieder auf den See und warf die Wellen in das Schiff, so dass es sich bereits füllte, und sie liefen Gefahr. Er selbst war auf dem Hinterteile des Schiffes und schlief auf einem Kissen. Da traten seine Jünger zu ihm, weckten ihn und sprachen: „Herr, rette uns, wir gehen zugrunde! Liegt dir nichts daran, dass wir umkommen?“ Jesus sprach zu ihnen: „Was seid ihr furchtsam, ihr Kleingläubigen?“ Dann stand er auf, schalt die Winde und den Wasserschwall und sprach zu dem Meere: „Schweig, verstumme!“ Da legte sich der Wind, und es ward große Stille. Und er sprach zu ihnen: „Wo ist euer Glaube? Habt ihr noch keinen Glauben?“ Die Leute aber fürchteten sich sehr und staunten und sagten einer zum andern: „Wer ist wohl dieser, dass er sogar den Winden und dem Meere gebietet, und sie ihm gehorchen?“


[ Jesus stillt den Sturm. Echternacher Evangeliar (11. Jh.) ]
Guntherus de Thuringia