"Der hl. Bernhard war am Anfang ganz streng und hart gegen jene, die sich seiner Leitung unterstellten. Gleich beim Eintritt erklärte er ihnen, sie müssten ihren Leib draußen lassen und dürften zu ihm nur mit ihrer Seele kommen. Wenn er ihre Beichte hörte, verurteilte er mit unerhörter Strenge alle, auch die kleinsten Fehler und drängte seine Beichtkinder mit solchem Ungestüm zur Vollkommenheit, dass er damit gerade das Gegenteil erreichte; denn sie verloren Atem und Mut, weil er sie auf einem so steil ansteigenden Weg mit solcher Hef- tigkeit antrieb.
Sieh, es war brennender Eifer für die vollkommene Reinheit, die diesen großen Heiligen zu solcher Hand- lungsweise veranlasste, und dieser Eifer war eine große Tugend; trotzdem war er tadelnswert. Deshalb wies Gott selbst in einer Erscheinung ihn zurecht und goss den Geist der Milde und Güte in seine Seele; nun änderte er sich vollständig, warf sich selbst seine Stren- ge vor und wurde gegen jedermann so gütig und so entgegenkommend, dass er allen alles ward, um sie alle zu gewinnen."
(Franz v. Sales, Philothea, Geordnetes Tugendstreben (II).)
Dazu passt, was der heilige Kirchenlehrer über den heiligen Augustinus in derselben Schrift sagt:
"Der hl. Augustinus sagt ganz richtig, dass Anfänger im Frömmigkeitsstreben leicht gewisse Fehler begehen, die wohl tadelnswert sind, wenn wir sie nach strengen Maßstäben der Vollkommenheit messen; sie sind aber auch lobenswert als gute Vorzeichen eines künftigen Seelenadels, den sie sogar vorbereiten. So ist eine nied- rige und grobe Angst, die in der eben erst von der Sünde aufgestandenen Seele Skrupel hervorruft, für den Anfang nur zu begrüßen als sicheres Vorzeichen künftiger Ge- wissenszartheit. Dieselbe Angst wäre aber an Fortge- schrittenen zu tadeln; in ihrem Herzen soll die Liebe herrschen, die nach und nach diese Art knechtischer Furcht verdrängt."
Dies lässt sich wohl in die bekannte Formel bringen: Man möge gegen (contra) sich selber streng, gegen (erga) andere aber barmherzig sein.
Allerdings:
Ein weiteres Beispiel ist der hl. Pfarrer v. Ars. Er gab einmal zu, dass er anfangs viel zu streng gegen sich selber war, nämlich im Fasten. Sein eingefallenes Gesicht kennt man ja. Er musste später erkennen, dass das nicht ganz der Liebe entsprechen könne, wenn man soo hart mich sich umgeht.
Ebenso hatte sich der hl. Franziskus v. Assisi schon mal Asche als Buße ins Essen geschüttet, was vielleicht auch nicht unbedingt im Sinne des Erfinders ist. Aber so waren die Heiligen eben auch Lernende.
Die Muttergottes sagte einmal, viele Heilige hätten am Anfang Heldentaten angestrebt, die überhaupt nicht nötig gewesen wären. Doch der Himmlische Vater liebe die Menschen, die sich selber streng nehmen, weil er mit ihnen auf jeden Fall etwas anfangen könne, während andere im Willen träge sind.
Bild: Zu viele Tugendkerzen auf einmal können die Sache so komp- liziert machen, dass, wenn man sich nur einmal neigt (=im Tugendstreben fällt), alle Tugenden mitstürzen, weil sie aufgrund fehlender Verwurzelung noch nicht alleine stehen können, sondern von dem fragilen Gesamt- gebilde abhängen.