Guntherus de Thuringia
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[108] Das Leben Jesu nach den vier Evangelisten

10. Jesus und die Juden in Jerusalem nach dem Laubhüttenfeste

A. Die Streitrede mit den ungläubigen Juden

(Joh. 8, 12-30)

[ W. M. Wasnezow (1848-1926): Christus Pantokrator - Ich bin das Licht der Welt ]

Jesus redete nun wieder zu ihnen und sprach: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wandelt nicht in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“

Da sprachen die Pharisäer zu ihm: „Du gibst Zeugnis über dich selbst; dein Zeugnis ist nicht wahr.“ Jesus antwortete ihnen: „Auch wenn ich Zeugnis über mich selbst gebe, so ist mein Zeugnis wahr, weil ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe; ihr aber wisst nicht, woher ich komme oder wohin ich gehe. Ihr richtet nach dem Fleische;1) ich aber richte niemand. Und wenn ich richte, so ist mein Gericht wahrhaft; denn ich bin nicht allein, sondern ich und der Vater, der mich gesandt hat. Auch in eurem Gesetze steht geschrieben, das Zeugnis zweier Menschen sei wahr. Nun bin ich es, der über sich selbst Zeugnis gibt, und es gibt Zeugnis über mich, der mich gesandt hat, der Vater.“

Da sprachen sie zu ihm: „Wo ist dein Vater?“ Jesus antwortete: „Ihr kennt weder mich noch meinen Vater. Wenn ihr mich kenntet, so würdet ihr auch meinen Vater kennen.“ Diese Worte redete Jesus in der Schatzhalle, als er im Tempel lehrte; keiner aber ergriff ihn, denn noch war seine Stunde nicht gekommen.

Abermals sprach Jesus zu ihnen: „Ich gehe hin, und ihr werdet mich suchen, aber ihr werdet in eurer Sünde sterben. Wohin ich hingehe, dahin könnt ihr nicht kommen.“ Da sprachen die Juden: „Will er etwa sich selbst töten, weil er sagt: Wohin ich gehe, dahin könnt ihr nicht kommen?“

Er aber sprach zu ihnen: „Ihr seid von unten, ich bin von oben; ihr seid aus dieser Welt, ich bin nicht aus dieser Welt. Darum habe ich euch gesagt: Ihr werdet in euren Sünden sterben. Denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, so werdet ihr in euren Sünden sterben.“ Da sprachen sie zu ihm: „Wer bist du denn?“ Jesus antwortete ihnen: „Der Anfang, der auch zu euch redet.1) Ich habe vieles über euch zu sagen und zu richten, aber der mich gesandt hat, ist wahrhaft, und was ich von ihm gehört habe, das rede ich in der Welt.“ Aber sie erkannten nicht, dass er seinen Vater Gott nenne.

Jesus sprach daher zu ihnen: „Wenn ihr den Menschensohn erhöht haben werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin, und dass ich von mir selbst nichts tue, sondern dieses so rede, wie mich mein Vater gelehrt hat. Ja, der mich gesandt, ist mit mir, und er lässt mich nicht allein, weil ich allzeit tue, was ihm wohlgefällig ist.“ Als er dieses sagte, glaubten viele an ihn.

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1) D. h. nach dem äußeren Scheine.
1) Der Sinn ist: "Gerade das bin ich, was ich euch auch sage", d. h. "jener bin ich, als den ich mich so oft erkläre".

B. Die Streitrede mit den Juden, die „gläubig“ geworden

(Joh. 8, 31-59)

Jesus sprach also zu den Juden, die an ihn glaubten: „Wenn ihr in meinem Worte bleibt, werdet ihr wahrhaft meine Jünger sein. Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Sie antworteten ihm: „Wir sind Nachkommen Abrahams und sind niemals jemandes Knechte gewesen. Wie sagst du: Ihr werdet frei werden?“

Jesus antwortete ihnen: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, jeder, der die Sünde tut, ist Knecht der Sünde. Der Knecht aber bleibt nicht ewig im Hause, der Sohn aber bleibt ewig. Wenn euch nun der Sohn frei macht, so werdet ihr wahrhaft frei sein. Ich weiß, dass ihr Nachkommen Abrahams seid, aber ihr sucht mich zu töten, weil mein Wort in euch nicht Raum gewinnt. Ich rede, was ich bei meinem Vater gesehen habe, und ihr tut, was ihr bei eurem Vater gesehen habt.“ Sie antworteten ihm: „Unser Vater ist Abraham.“

[ Abraham und die drei Engel im Haine Mamre - Mosaik im Dom von Monreale ]

Jesus sprach zu ihnen: „Wenn ihr Kinder Abrahams seid, so tut auch Abrahams Werke. Nun aber sucht ihr mich zu töten, mich, der ich euch die Wahrheit verkündet habe, die ich von Gott gehört habe. Das hat Abraham nicht getan. Ihr tut die Werke eures Vaters.“ Da sprachen sie zu ihm: „Wir sind nicht aus Unzucht geboren; e i n e n Vater haben wir, Gott.“1)

Jesus aber sprach zu ihnen: „Wenn Gott euer Vater wäre, so würdet ihr mich gewiss lieben; denn ich bin von Gott ausgegangen und gekommen; ich bin nicht von mir selbst gekommen, sondern er hat mich gesandt. Warum versteht ihr meine Sprache nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt. Ihr habt den Teufel zum Vater, und die Gelüste eures Vaters wollt ihr tun. Dieser war ein Menschenmörder von Anfang an und ist in der Wahrheit nicht bestanden; denn Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er Lüge redet, so redet er aus seinem Eigenen; denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge. Wenn ich aber die Wahrheit sage, so glaubt ihr mir nicht. Wer aus euch kann mich einer Sünde beschuldigen? Wenn ich euch die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht? Wer aus Gott ist, der hört die Worte Gottes. Darum hört ihr nicht, weil ihr nicht aus Gott seid.“ Da antworteten die Juden: „Sagen wir nicht recht, dass du ein Samariter bist und einen Teufel hast?“

Jesus antwortete: „Ich habe keinen Teufel, sondern ich ehre meinen Vater; ihr aber entehrt mich. Doch ich suche meine Ehre nicht; es ist einer, der sie sucht und richtet. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wenn jemand mein Wort hält, wird er in Ewigkeit den Tod nicht sehen.“ Da sprachen die Juden: „Nun erkennen wir, dass du einen Teufel hast. Abraham und die Propheten sind gestorben, und du sagst: Wenn jemand meine Worte hält, wird er in Ewigkeit den Tod nicht kosten. Bist du denn größer als unser Vater Abraham, der gestorben ist? Auch die Propheten sind gestorben. Was machst du aus dir selbst?“

[ Gustave Doré: Satan ]

Jesus erwiderte: „Wenn ich mich selbst ehre, so ist meine Ehre nichts; mein Vater ist es, der mich ehrt, von dem ihr sagt, er sei euer Gott. Doch ihr kennt ihn nicht; ich aber kenne ihn, und wenn ich sagte, ich kenne ihn nicht, so wäre ich ein Lügner gleichwie ihr. Ich kenne ihn und halte seine Worte. Abraham, euer Vater, hat frohlockt, dass er meinen Tag sehen werde; er sah ihn und freute sich.“ Da sprachen die Juden zu ihm: „Du bist noch nicht fünfzig Jahre alt und hast Abraham gesehen?“

Jesus sprach zu ihnen: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehedem Abraham ward, bin ich.“1) Da hoben sie Steine auf, um sie auf ihn zu werfen. Jesus aber verbarg sich und ging zum Tempel hinaus.

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1) D. h. wir sind nicht Heiden und Götzendiener. Der Götzendienst wird in der hl. Schrift Ehebruch und Hurerei genannt.
1) Ich habe ein ewiges, fortdauerndes Sein.

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