Heilwasser
2209

Was ist leichter, ein Reich zu erobern oder einem Menschen ein Körperteil zurückzugeben?

Claudia Procula, die Frau des Pontius Pilatus, reist auf einer Sänfte zu Jesus hinaus, der sich gerade in der Nähe des Baches unter einer Pappel befindet.
Dort ergibt sich ein unbekanntes, aber hochinteressantes Gespräch, wozu
ich alle Leser herzlich einlade.


Nach der Begrüßung beginnt Claudia ohne Umschweife: »Meister,
es sind einige Leute zu mir gekommen . . . besser gesagt, zu Pontius. Ich will keine langen Reden halten. Aber da ich dich bewundere,
spreche ich zu dir, wie ich zu Sokrates gesprochen hätte, wenn ich zu
seiner Zeit gelebt hätte, oder zu einem anderen Tugendhaften, der
ungerecht verfolgt wird: „Ich kann nicht viel tun, aber was ich tun
kann, werde ich tun!“ Vorläufig werde ich die nötigen Briefe schreiben, um dich zu schützen und auch, um dich mächtig zu machen.
Auf Thronen und anderen hohen Posten gibt es so viele Unwürdige . . . «
»Domina, ich habe dich nicht um Ehren und Schutz gebeten. Der
wahre Gott möge dir deine guten Absichten vergelten. Aber laß die
Ehrungen und deinen Schutz denen zuteil werden, die sie sehnsüchtig erstreben. Ich habe kein Verlangen danach.«
»Ah! Das ist es, was ich erhofft habe! Du bist also wahrhaft der Gerechte. Ich habe es geahnt! Und die anderen sind deine unwürdigen
Verleumder! Sie sind zu uns gekommen und . . . «
»Es ist nicht nötig, daß du sprichst, Domina. Ich weiß alles.«
»Weißt du auch, daß man sagt, du hättest deiner Sünden wegen
alle Macht verloren und müßtest deshalb wie ein Ausgestoßener hier
leben?«
»Auch das weiß ich. Und ich weiß auch, daß es dir leichter gefallen

ist, letztere Lüge zu glauben. Denn dein heidnischer Verstand hat die
Fähigkeit, die menschliche Macht oder die menschliche Gemeinheit
zu erkennen, aber er kann noch nicht begreifen, was die Macht des
Geistes ist. Du bist . . . enttäuscht von deinen Göttern, die in euren
Religionen in fortwährendem Streit miteinander liegen und deren so
unbeständige Macht den Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten
zwischen ihnen unterworfen ist. Und du meinst, beim wahren Gott
wäre es ebenso. Doch es ist nicht so. Ich bin immer noch derselbe
wie damals, als du mich das erste Mal einen Aussätzigen heilen
sahst. Und ich werde derselbe sein, wenn es den Anschein hat, daß
ich endgültig vernichtet bin. Dieser dort ist dein stummer Sklave,
nicht wahr?«
»Ja, Meister.«
»Laß ihn näherkommen.«
Claudia stößt einen Ruf aus, und der Mann nähert sich und wirft
sich zwischen Jesus und seiner Herrin zu Boden. Sein armes Herz
eines Wilden weiß nicht, wen es mehr verehren soll. Er fürchtet,
daß er bestraft wird, wenn er den Christus mehr als die Herrin verehrt. Doch ungeachtet dessen wiederholt er die Geste von Cäsarea,
nachdem er zuerst Claudia einen bittenden Blick zugeworfen hat: er
nimmt den bloßen Fuß Jesu in seine großen, schwarzen Hände, wirft
sich mit dem Gesicht zu Boden, und stellt ihn auf seinen Kopf.
»Domina, höre. Ist es deiner Meinung nach leichter, ein Reich zu
erobern oder einem Menschen einen Körperteil, der nicht mehr vorhanden ist, zurückzugeben?«
»Ein Reich zu erobern, Meister. Das Glück hilft den Kühnen. Aber
niemand – außer dir allein – kann einen Toten wiedererwecken und
einem Blinden neue Augen schenken.«
»Und warum?«
»Weil . . . weil Gott alles vermag.«
»Dann bin ich also Gott für dich?«
»Ja . . . oder wenigstens . . . Gott ist mit dir.«
»Kann Gott mit einem Übeltäter sein? Ich spreche vom wahren

Gott, nicht von euren Götzen, die nur in der Einbildung dessen existieren, der etwas sucht, dessen Existenz er zwar fühlt, von dem er
aber nicht weiß, was es ist, und der sich deshalb Gespenster schafft,
um seine Seele zu beruhigen . . . «
»Nein . . . ich würde sagen, nein. Das ist nicht möglich. Auch unsere Priester verlieren ihre Macht, wenn sie schuldig werden.«
»Welche Macht?«
»Nun . . . die Macht, in den Sternen zu lesen und die Antworten der Opfer, den Flug und den Gesang der Vögel auszulegen. Du
weißt, die Wahrsager, die Haruspizes . . . «
»Ich weiß. Ich weiß. Nun also? Schau her. Und du, Mann, erhebe
dein Haupt und öffne den Mund, den eine grausame menschliche
Macht einer Gabe Gottes beraubt hat. Durch den Willen des wahren
und einzigen Gottes, des Schöpfers vollkommener Körper, sollst du
wiederhaben, was der Mensch dir genommen hat.«
Jesus hat seinen weißen Finger in den Mund des Stummen gelegt. Die neugierig gewordene Freigelassene kann sich nicht länger zurückhalten und kommt näher und schaut. Claudia neigt sich
weit vor und beobachtet. Jesus nimmt den Finger heraus und ruft:
»Sprich, und benütze die wiedergeborene Zunge, um den wahren
Gott zu loben.«

~~~> liebevoll-wei.se/Der_Gottmensch_…,
Vorbereitung auf die Passion, 618.
Heilwasser
"Denn dein heidnischer Verstand hat die
Fähigkeit, die menschliche Macht oder die menschliche Gemeinheit
zu erkennen, aber er kann noch nicht begreifen, was die Macht des
Geistes ist. Du bist . . . enttäuscht von deinen Göttern, die in euren
Religionen in fortwährendem Streit miteinander liegen und deren so
unbeständige Macht den Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten
zwischen ihnen unterworfen ist …Mehr
"Denn dein heidnischer Verstand hat die
Fähigkeit, die menschliche Macht oder die menschliche Gemeinheit
zu erkennen, aber er kann noch nicht begreifen, was die Macht des
Geistes ist. Du bist . . . enttäuscht von deinen Göttern, die in euren
Religionen in fortwährendem Streit miteinander liegen und deren so
unbeständige Macht den Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten
zwischen ihnen unterworfen ist. Und du meinst, beim wahren Gott
wäre es ebenso. Doch es ist nicht so."