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Hl. Augustinus: Der Geist erstreckt sich in der Zeit

Was können heutige Leser aus Augustins Confessiones über das Menschsein lernen?

Von Norbert Fischer

Augustins Confessiones sind vor 1 600 Jahren geschrieben worden, regen aber bis heute das Denken vieler Leser an und weisen auf Gott hin. Augustinus beginnt mit einem tiefem Blick auf sein Leben bis zur Bekehrung. Den zehn biographischen Büchern folgen Bücher zum „Sein der Zeit“, zum „Sinn der Schöpfung“ und zum „Reich Gottes“. Die Fragen zum „Sein der Zeit“ sind zentral. Dazu ist Heideggers frühes Hauptwerk „Sein und Zeit“ zu beachten (1927). Zum elften Buch der Confessiones hat Heidegger bei einer „Conferenz vor den Mönchen, Klerikern und Novizen“ in „Beuron, Erzabtei St. Martin 26.X.1930“ gesprochen. Dort sagt er: „In der abendländischen Philosophie sind uns drei bahnbrechende Besinnungen auf das Wesen der Zeit überliefert: die erste hat Aristoteles durchgeführt; die zweite ist das Werk des hl. Augustinus, die dritte stammt von Kant.“

Die Frage nach Gott

Heidegger hat den dritten Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit mit Bezug zur Gottesfrage im „Aufriss der Abhandlung“ zwar angekündigt und verfasst, bei der Nachricht vom Tod Rilkes aber verbrannt. In der „Martin Heidegger Gesamtausgabe“ rügt Heidegger das Ignorieren des von ihm verbrannten Abschnitts (GA 3, XII-XIV). Seine (teils revidierte) Abkehr vom christlichen Glauben macht es nötig, die Basis seiner früheren Zustimmung zu bedenken, die an Augustinus anknüpft.

Zu Beginn seines Vortrags über Augustins Zeitabhandlung im elften Buch sagt er, dass die „Confessiones“ hier ihr eigentliches Ziel erlangen. Augustinus weist im dritten Teil des elften Buchs der Confessiones zum „Sein der Zeit“ zuerst auf Schwächen der alltäglichen Zeitauffassung; dann wendet er den Blick auf die Funktion des Geistes für die Erfassung des Seins der Zeit, was zu Aporien führt; darauf folgt eine neue Prüfung der Tätigkeit des Geistes in der Hoffnung auf Bewahrung des Zeitlichen in der Ewigkeit Gottes. Das Thema des elften Buchs hat Rainer Maria Rilke im folgenden späten Gedicht aufgegriffen:

„Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!Sie zu halten, wäre das Problem.Denn, wen ängstigsts nicht: wo ist ein Bleiben,wo ein endlich Sein in alledem?–Sieh, der Tag verlangsamt sich, entgegen jenem Raum, der ihn nach Abend nimmt: Aufstehn wurde Stehn, und Stehn wird Legen, und das willig Liegende verschwimmt –Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; –aber auch in ihnen flimmert Zeit.Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt obdachlos die Unvergänglichkeit.“

Erstens: Das elfte Buch der Confessiones beginnt atemberaubend mit der Frage: „Nimmst Du, Herr, in Deiner Ewigkeit überhaupt zur Kenntnis, was ich Dir sage? Oder scheint Dir flüchtig und nichtig zu sein, was in der Zeit geschieht?“ In Frage steht die Beziehung Gottes zur Zeit, die auch Platon suchte, der „Verähnlichung mit Gott“ soweit möglich als Ziel menschlichen Strebens nennt. In diesen Kontext gehört die Menschwerdung Gottes, die in den „Kindheitsgeschichten“ der Evangelien (Matthäus und Lukas) verkündet wird, aber auch im Prolog des Johannes-Evangeliums; zu beachten sind dazu die Reflexionen in Confessiones 4,19; nach Augustins Auslegung der Jungfräulichkeit des Geistes (Denis 25,7f.) sollen alle Menschen Gott jungfräulich empfangen (im Sinne haggadischer Midraschim).

Gott lässt Irrwege und Hoffnung zu

Die „Confessiones“ betrachten das Sein der Zeit im Kontext konkreter Erfahrungen, aber mit Bezug zum überzeitlichen „Schöpfer“. Es geht Augustinus um das Verhältnis Gottes zur Zeit: im Glauben, dass der Ewige sich liebend auf Zeitliches beziehe. Dazu nennt er ein Psalmwort: „,Weil Du gut bist, weil sich Deine Barmherzigkeit auf die Weltzeit richtet.“ Er ruft Gott im Glauben an, dass Gott selbst ohne Sorge sei, aber in Liebe für uns Sorge trage – welche Liebe in der Menschwerdung Gottes gipfele und so die Hoffnung auf eine ewige, heilige Gemeinschaft freier Bürger mit Gott stütze. Von ihr spricht noch Kant, der in der Religionsschrift Gottes „(uns schon durch die Vernunft versicherte) Liebe zur Menschheit“ nennt.

Der liebende Gott lässt es laut Augustinus zwar zu, dass Menschen Irrwege gehen (wie er breit erzählt): dennoch sollen wir Menschen das „Reich Gottes“ und „Gerechtigkeit“ erstreben und erhoffen.

Vor der Zeit war nur Gott

Zweitens: Laut Augustinus weist die „Schöpfung“ auf Gott, der Höchstes schaffen wollte: ein „Bild“ und ein „Reich Gottes“. Vor der Zeit sei nur Gott gewesen. Also stellt sich die Frage, „was Zeit ist“. Sein habe nur Gegenwärtiges, das aber ohne Ausdehnung sei. Damit scheint die Frage nach einem Sein der Zeit unbeantwortbar: Da Zeit kein (objektiv) erkennbarer Gegenstand ist, gibt es wenig große Untersuchungen zu ihr. Heidegger nennt Aristoteles als Autor der ersten von „drei bahnbrechenden Besinnungen auf das Wesen der Zeit“; nach ihm ist „die Zeit die Zahl der Bewegung“ gemäß dem „früher“ oder „später“ (Physik 219). Kant, den er als dritten nennt, sagt (KrV B 75): „Unsre Natur bringt es so mit sich, dass die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d.i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen afficirt werden.“ Demnach sind Raum und Zeit „Formen der sinnlichen Anschauung“. Auch Augustinus denkt Zeit nicht als Gegenstand, sondern als „distentio animi“: „Ich sehe somit, dass die Zeit eine gewisse Erstreckung ist.“ Denn wir messen nicht die zukünftige Zeit, die noch nicht ist, nicht die gegenwärtige, die unausgedehnt und sofort vorüber ist, aber auch nicht die vergangene Zeit, die nicht mehr ist. Augustinus denkt die Zeit als Erstreckung, fragt, was sich da erstreckt, und vermutet, dass „die Zeit die Erstreckung des Geistes selbst“ sei. Er hält fest: „Wir messen also weder die zukünftigen noch die vergangenen, noch die gegenwärtigen, noch auch die vorübergehenden Zeiten – und doch messen wir Zeiten.“

Unfassbares Sein

Das bedeute: „Entweder also kommt den Zeiten selbst Sein zu, oder ich messe keine Zeiten.“ Zeit gebe es nicht als Objekt, sondern in Tätigkeiten des Geistes: als Erwartung des Zukünftigen, als Bedenken des Vergangenen und als Hinwendung zum Gegenwärtigen. Obwohl uns ein Sein der Zeit nicht fassbar ist, sehnen wir uns nach ihm: trotz der Einsicht, dass sein Leben durch die Unfassbarkeit des Seins der Zeit zerstreckt ist („distentio est vita mea“), genügt ihm nicht die Nichtigkeit des Zeitlichen. Vielmehr ersehnt er ein Sein der Zeit: Im Vertrauen auf eine höhere Berufung hofft er, nicht in die Zeiten zu zersplittern, getragen vom christlichen Glauben an die „Menschwerdung“ und ein ewiges „Reich Gottes“.

Drittens: Am Ende sehnt sich Augustinus nach einer neuen Welt: In der „distentio“ seien wir ausgestreckt („extentus“) auf eine „intentio“, in der die Zersplitterung überwunden ist. Auch Goethes „Faust“ bewegen solche Fragen: „Werd' ich zum Augenblicke sagen:/ Verweile doch! du bist so schön!/ Dann magst du mich in Fesseln schlagen,/ Dann will ich gern zugrunde gehn!“

Augustinus führt zur Heimkehr zum Schöpfer

Faust spricht als ruheloses Herz, das einer Erlösung durch himmlische Kräfte bedarf, die dann durch das Wort der „Engel“ eintritt: „Wer immer strebend sich bemüht,/ den können wir erlösen.“ Solches Streben ist dem Autor der Confessiones nicht fremd. Es treibt ihn zur Frage, „was Zeit ist“. Gegen deren Flüchtigkeit ersehnen wir alle die Beständigkeit der Zeit (Rilke: „Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!“). Ansonsten zersplittern wir in die Zeiten, bis wir neues Sein im Feuer der Liebe Gottes erlangen.

Die Zeituntersuchung im elften Buch führt zum Abschluss der „Confessiones“ zu Ziel und Bestimmung des Menschen gemäß dem biblischen Schöpfungsbericht (Gen 1,1f) und weist auf den ewigen Sabbat und die Ruhe in unserer Heimkehr zu Gott. Heideggers These zu „drei bahnbrechenden Besinnungen auf das Wesen der Zeit“ ist treffend.

Kant nannte als Themen der Philosophie „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ und dachte in Augustins Spur, die seine Fragen vorbereitet: „1. Was kann ich wissen?/ Was soll ich thun?/ Was darf ich hoffen?“ An deren Beantwortung hatten und haben alle Vernunftwesen zu arbeiten.
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