Verschiedenheit göttlicher Gunsterweise

Nicht jene Seelen beruft Jesus, die würdig sind, sondern diejenige, die zu berufen Ihm wohlgefällt. Wie schön drückte der heilige Paulus das mit den Worten aus: „Gott hat Mitleid mit wem Er will; Seine Barmherzigkeit erzeigt Er, wem Er Barmherzigkeit erzeigen will“ (1.Mos 33,19). „Es ist also nicht das Werk dessen, der will, noch dessen, der läuft, sondern Gottes, der Barmerzigkeit erzeigt“ (Röm 9,10).

Lange habe ich mich gefragt, weshalb wohl der liebe Gott einzelne Seelen bevorzugt und nicht alle Seelen das gleich Maß von Gnaden zugemessen wird. Ich war verwundert, als ich feststellte, mit welch außergewöhnlichen Gnadenerweisen Er große Sünder, wie den heiligen Paulus, den heiligen Augustinus, die heilige Maria Magdalena und so viele andere, überhäuft hat, wie Er ihnen – wenn ich es so sagen darf – Seine Gnaden gewissermaßen aufdrängte.

Ebenso wunderte ich mich, wenn ich im Leben der Heiligen las, wie der Heiland manche auserwählten Seelen von der Wiege bis zum Grabe geradezu mit Seiner Liebe umhegt hat, ohne dass Er auf ihrem Lebenswege Schwierigkeiten auftreten ließ, die ihrem Aufstieg zu Ihm hindernd im Wege standen, und wie Er nie zuließ, dass der reine Glanz ihrer Taufunschuld durch die Sünde befleckt wurde.

Andererseits fragte ich mich, warum beispielsweise die Heiden in so großer Anzahl sterben, ohne je den Namen Gottes gehört zu haben.

Jesus selbst, geruhte, mich in dieses Geheimnis einzuführen:

Er stellte mir das Buch der Natur vor Augen, und ich begriff, dass alle von Ihm geschaffenen Blumen schön sind: dass der Glanz der Rose und die Reinheit der Lilie dem Duft des Veilchens keinen Abbruch tun und die entzückende Einfachheit des Maßliebchens nicht zu beeinträchtigen vermögen. Auch wurde mir klar, dass die Natur ihren Frühlingsschmuck einbüßen müßte und die Felder nicht mehr im Blumenschmick prangten, wollten alle Blumen Rosen sein.

So verhält es sich auch in der Welt der Seelen, dem lebendigen Garten des Herrn. Er fand es für gut, große Heilige zu erwecken, die mit den Lilien und Rosen zu vergleichen sind – aber Er hat auch kleinere geschaffen, die sich damit begnügen müssen, gewissermaßen Maßliebchen oder schlichte Veilchen zu sein, die Seinen göttlichen Blick erfreuen sollen, wenn Er sich zu ihnen herabneigt. Je glücklicher die Blumen sind, Seinem Willen gerecht zu werden, um so vollkommener sind sie.

Auch noch etwas anderes habe ich begriffen: Mir wurde klar, dass die Liebe des Heilandes sich gerade so gut in der schlichtesten Seele offenbart, die getreu Seinen Gnaden entspricht, wie in der auserlesensten Seele.

Wirklich, der Liebe ist es eigen, sich herabzulassen! Glichen alle Seelen den Gottesgelehrten, die Leuchten in der Kirche waren, so würde das den Anschein erwecken, als steige Gott nicht tief genug herab, wenn Er sich ihnen nähert. Wie Er das Kind erschaffen hat, das nichts weiß und nur ein wenig schreien kann, so hat Er auch den armen Heiden in die Welt gesetzt, der nur vom Naturgesetz geleitet wird. Aber auch zu ihnen lässt Er sich herab.

Gerade die Blumen des Feldes sind es, deren Schlichtheit Ihn entzückt. Indem der Herr sich so tief zu ihnen herablässt, beweist Er Seine unendliche Größe.

Ebenso wie die Sonne die Zedern und die Blümchen bescheint, so erleuchtet die göttliche Sonne jede Seele, sei sie groß oder klein. Gleich wie in der Natur die Jahreszeiten so harmonisch aufeinander abgestimmt sind, dass selbst das bescheidenste Maßliebchen zur festgesetzten Zeit blüht, so dient alles zum Besten der Seelen.

Quelle: Therese von Lisieux: Geschichte einer Seele – kathPedia