NEUES QUELLENWERK ZUR ZÖLIBATSGESCHICHTE RELATIVIERT SO MANCHEN ZEITGEISTIGEN MYTHOS

Wollbolds kommentierte Textsammlung bildet einen Meilenstein für die Zölibatsforschung. Sie bietet viele faszinierende, bisweilen auch befremdliche Einblicke in das spätantike Christentum und sein kulturelles Umfeld bezüglich der Themen: Sexualität, Ehe, Priestertum, Enthaltsamkeit, Jungfräulichkeit, kirchliche Disziplin etc.

Eine verbreitete Meinung über den Zölibat lautet: Aus der nachapostolischen Zeit gäbe es keine zuverlässigen Quellen; zudem spiegle die Enthaltsamkeitspflicht für höhere Kleriker erst eine spätere Entwicklung wider, die erst unter Papst Gregor VII. (1073-1085) Rechtsverbindlichkeit erhalten habe. Eine gängige Auffassung auch unter Theologen ist, dass es in der katholischen Kirche lange verheiratete Priester gegeben habe. So äusserte sich u.a. die Franziskanerin Katharina Kluitmann. Auch ein Berater von Papst Franziskus fordere eine Aufhebung des Zölibats, betont die Ordensfrau, die selber im Zölibat lebt.

Kluitmann befürwortet Ende des Pflichtzölibats bei Priestern

Da kommt diese umfangreiche Sammlung frühchristlicher Texte zum Zöibat zur rechten Zeit. Die einschlägigen Quellen zeichnen nämlich ein anderes Bild.

Die 148 (!) Texte aus dem 2. und 3. Jahrhundert – darunter berühmte Autoren wie Clemens von Alexandrien, Origenes, Tertullian, Cyprian von Karthago – belegen zunächst, wie sehr sexuelle Enthaltsamkeit (und mit ihr Selbstbeherrschung, Treue, Einehe und Jungfräulichkeit) schon früh grosse Hochschätzung unter Christen genoss.

Dazu bemerkt der Autor: «Aber genau dieser Zusammenhang mit Frömmigkeit und Lebenspraxis eifriger Christen ist entscheidend, um die Enthaltsamkeitsanforderungen an den Klerus plausibel oder sogar wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Wer wie er die Christen lehrt, wer den Gemeinden vorsteht, wem Jungfrauen und Witwen zur besonderen Fürsorge übergeben sind und wer die Liturgie zelebriert, von dem wird die Erfüllung der allgemein christlichen Ideale erwartet».

Während die Zeugnisse aus dem 2. Jahrhundert noch spärlich sind und nur vorsichtige Schlüsse zulassen, sind die Monogamie- und Enthaltsamkeitsregel für Kleriker im 3. Jahrhundert bereits klar dokumentiert. Die Monogamieregel empfiehlt Christen, nach dem Tod des Gatten nicht wieder zu heiraten.

Was für Gläubige ein Ideal ist, wird für Kleriker zur Norm: Eine Wiederheirat wird ihnen im Anschluss an 1 Tim 3,2 untersagt, da sie als fehlende Bereitschaft oder Befähigung zur Enthaltsamkeit aufgefasst wurde.
Was die Regel und Praxis der ehelichen Enthaltsamkeit bei Klerikern (lex continentiae) betrifft, so ist zu sagen, dass sie im 3. Jahrhundert bereits gut belegt ist.

Mit dem 4. Jahrhundert (Johannes Chrysostomus, Ephräm dem Syrer, Ambrosius, Hieronymus u. a.) kommt es zur theologischen Vertiefung und disziplinaren Festschreibung dessen, was sowohl im lateinischen Westen als auch im griechisch- und syrischsprachigen Osten bereits fest etabliert ist. Zum Allgemeingut der altkirchlichen Disziplin gehören dabei: «Monogamieregel, Verbot der Eheschliessung nach der Weihe, Enthaltsamkeitserwartung und Sanktionsbereitschaft bei Zuwiderhandeln».

Fast schon zum Gemeingut gehört in der Zölibatsliteratur die These, dass kultische Reinheitsvorstellungen (etwa im Kontext häufiger, eventuell täglicher Gottesdienste) für die Alte Kirche eine entscheidende Rolle für die Forderung sexueller Enthaltsamkeit spielten. Ausserdem wurde behauptet, «das Enthaltsamkeitsgesetz sei eine Erfindung des 4. Jahrhunderts und zudem auf einzelne Regionen beschränkt». Diese Thesen belegen die Quellen nicht.

Während zahlreiche Kirchenschriftsteller (gegen sexual- und ehekritische Tendenzen) immer wieder betonen, dass der eheliche Verkehr nicht sündhaft und die Ehe gut sei, halten sie eine dauerhafte sexuelle Enthaltsamkeit bei Klerikern für angezeigt.

Dafür sind nicht kultische Reinheitsvorstellungen ausschlaggebend, sondern (meist im Anschluss an 1 Kor 7,5) das Ideal beständiger und ungeteilter Ausrichtung auf das geistliche Leben: Gebet, Fasten, Gottesdienst. Dabei berufen sie sich häufig auf das Vorbild und die Ordnung der Apostel.

Nicht fehlen dürfen in einem Quellenband zur Frühgeschichte des Zölibats die spanische Synode von Elvira (um 300), die eine grosse Bandbreite pastoraler Fragen behandelte, sowie die wahrscheinlich legendäre Episode des ostkirchlichen Bekenners und Asketen Paphnutius, der in Nizäa (325) gegen eine Enthaltsamkeitsverpflichtung opponierte.

Ebenfalls nicht fehlen dürfen die päpstlichen Interventionen von Damasus und Siricius bis hin zu Leo dem Grossen; sie schärften die Verpflichtung zur dauerhaften Enthaltsamkeit für Kleriker (Enthaltsamkeitszölibat) ein, wobei sie sich nicht als Reformer, sondern als Bewahrer und Anwälte der apostolischen Tradition verstanden. Der Grundsatz, dass das tradierte Ethos vor dem fixierten Gesetz kommt, ist bezüglich der Verrechtlichung der Klerikerdisziplin im Auge zu behalten.

Die Synode von Trullos (691/692) führte zu einer regionalen, partiellen Abkehr von der bisherigen Disziplin. Die spätere Orthodoxie hält zwar an der Monogamieregel bzw. dem Digamieverbot fest, beschränkt den Enthaltsamkeitszölibat aber auf Bischöfe. Diesen wird sogar vorgeschrieben, sich von ihren Ehefrauen zu trennen, was frühere Kirchenversammlungen noch abgelehnt hatten.

Die weitere westkirchliche Entwicklung, von der Gregorianischen Reform über das Konzil von Trient bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil und dem geltenden Codex, stellt im Licht des ersten Jahrtausends keine grundsätzliche Abkehr von der altkirchlichen Disziplin dar. Die folgenschwerste Neuerung, der Übergang vom Enthaltsamkeits- zum Ehelosigkeitszölibat, möchte dieselbe nicht aufheben, sondern vielmehr wirksam durchsetzen.

Dem Quellenband ist eine breite Rezeption zu wünschen, gerade unter Theologen.

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