Tina 13
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Was Menschen anderen Menschen antun.

Weggesperrt und sterilisiert: Wie Schweizer Behörden das Leben von 60 000 Unschuldigen zerstörten

Ein düsteres Kapitel der Geschichte: Weil sie nicht der Norm entsprachen, wurden im 20. Jahrhundert Zehntausende Menschen ohne Gerichtsurteil in Anstalten gesperrt und ihre Familien zerstört.

Tamara M. wurde missbraucht, dann musste sie ihre Kinder hergeben und sich sterilisieren lassen.

Sie ist 19 Jahre alt und im sechsten Monat schwanger, als sie im Berner Frauengefängnis Hindelbank eingesperrt wird - ohne je eine Straftat begangen zu haben. Es ist das Jahr 1971, Tamara M. wird administrativ versorgt, weil sie zum zweiten Mal unverheiratet ein Kind erwartet und Psychiater den Eindruck haben, sie erfülle die moralischen und sozialen Standards nicht.

Kurz vor der Einweisung ins Gefängnis erhält sie eine vernichtende Diagnose, die sich später als falsch herausstellen wird: Die Ärzte halten die junge Frau unter anderem für eine «triebhafte Psychopathin». Sie gehen davon aus, dass Tamara M. unter einer angeborenen Charakterschwäche leidet, vererbt vom Vater, der sich das Leben nahm, als sie noch ein Baby war. Sie glauben, die junge Frau würde ihre «Defizite» weitervererben. Sie empfehlen, sie zu unterbinden, allerdings gibt es ein Problem, wie die Ärzte in der Akte vermerken: «Von einer operativen Sterilisation will sie vorderhand nichts wissen.»

Tamara M. lebt in Hindelbank unter einem Dach mit Straftäterinnen, nur die Farbe ihrer Gefängniskleidung ist anders, sie trägt Braun, die Verurteilten Blau. Mittlerweile hochschwanger, muss sie trotzdem in der Gefängniswäscherei schuften. Im achten Monat bringt sie ihre Tochter Claudia zur Welt. Eine Frühgeburt. «Wenn’t eso umetschutet wirsch wie-n-en Hund, isch das kei Wunder», wird sie sich neun Jahre später in einem Interview mit dem «Sonntagsblick» daran erinnern. Ihre dort gemachten Aussagen sind die einzigen Zeugnisse, die es von ihr selber gibt.

Nach der Geburt im Spital kommen die Mutter und das Neugeborene zurück ins Gefängnis. In einer Aktennotiz steht, dass Tamara M. gut zum Kind schaue. Sie hätte alles getan, um nach dem bereits zur Adoption freigegebenen Sohn nicht auch noch ihre Tochter zu verlieren: «Me het mir gseit, i chönni doch nöd zuenem luege.» In der Nacht bevor man ihr das Baby wegnimmt, gibt sie ihrer Tochter zum letzten Mal den Schoppen. Dann knüpft sie Leintücher zusammen und flieht aus dem Gefängnis. Sie will nicht mitansehen, wie Fremde ihre Tochter abholen. Die Freiheit dauert nur kurz. Bald liefert die Vormundschaftsbehörde die Flüchtige wieder nach Hindelbank ein.

Zur Strafe kommt sie ins «Cachot», ein dunkles Kellerverlies mit einem kleinen Guckloch. Statt einer Pritsche liegt ein Holzbrett auf dem Boden, und in einer Ecke steht ein Kübel für die Notdurft. Kleider darf Tamara M. dort nicht tragen, nicht einmal Socken, nur ein Nachthemd. Als sie wieder in eine normale Zelle verlegt wird, versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Nun wird es der Gefängnisleitung zu riskant. Nach acht Monaten Hindelbank wird sie in die psychiatrische Klinik St. Urban im Kanton Luzern verlegt.

Dort versuchen die Ärzte, die junge Frau doch noch von einer Sterilisation zu überzeugen. Als sie nachgibt, weiss sie nicht, dass sie ihre beiden Kinder nie wird zu sich holen können. Auch das Versprechen der Ärzte, dass Tamara M. aus der Klinik entlassen werde, sobald sie unterbunden sei, stellt sich als Lüge heraus. Sie muss nach der Operation noch zwei weitere Jahre bleiben. Es ist ein Muster, das sich wiederholt in dieser Geschichte: Egal, was Tamara M. tut, am Ende wird es gegen sie verwendet.

Ihre Geschichte zeigt nicht nur, wie die Behörden mit Menschen umgingen, die nicht der Norm entsprachen. Sie zeigt auch, dass Menschen aus schwierigen sozialen Verhältnissen besonders stark von der administrativen Versorgung betroffen waren. Tamara M. hatte im Grunde nie eine echte Chance. Nach dem Selbstmord des Vaters heiratete ihre Mutter erneut. Der Stiefvater missbrauchte das Mädchen.

Als dies in der Schule auskam, gab die Mutter Tamara in ein Heim. Von da an entschieden Vormundschaftsbehörden, Psychiater und Heimaufseher über ihr Leben. Als Tamara sich im Teenageralter für Männer zu interessieren begann, interpretierte man ihr Verhalten als triebgestört. Dabei suchte sie bloss Zuneigung und Liebe. Je mehr sie sich gegen Bevormundung wehrte, desto stärker bestätigte sie die Behörden in deren Glauben, dass sie ein hoffnungsloser Fall sei.

Heirat als Ausweg

Nach ihrer Zwangssterilisation unternahm Tamara M. mehrere Fluchtversuche, die immer wieder in der Psychiatrie und noch einmal im Gefängnis endeten. In dieser Zeit lernte sie ihren künftigen Mann kennen. Mit der Heirat wurde sie aus der Vormundschaft entlassen.

Der Psychiater und damalige Vizedirektor der Klinik St. Urban, Ernst Schneeberger, zeigte sich aber nach wie vor in seinem Urteil bestätigt: Die Klinikaufenthalte hätten die «erstmalige Sozialisation» von Tamara M. ermöglicht, sagte er im Interview mit dem «Sonntagsblick». Auch vertrat er noch 1980 die Ansicht, dass es durchaus gute Gründe gebe für Zwangssterilisationen: «Bewiesen ist es jedenfalls nicht, dass sich charakterliche Schwierigkeiten wie zum Beispiel Triebhaftigkeit, Labilität oder Haltarmut nicht vererben sollen. Als Psychiater fühlt man sich eben auch für die Psychohygiene der kommenden Generationen verantwortlich.»

Die Zwangssterilisation wurde bis 1981 angewandt und war lange gesellschaftlich akzeptiert. Die Zürcher Journalistin Lisa Hörler brachte 1978 eine öffentliche Debatte in Gang. Zusammen mit Fritz Muri veröffentlichte sie in der «Schweizer Illustrierten» eine grosse Recherche über Zwangssterilisationen in der Psychiatrischen Klinik St. Urban. 1980 schrieb Hörler für den «Sonntagsblick» eine dreiteilige Serie über Tamara M.s Leben. Die Journalistin führte stundenlange Interviews, hatte Einblick in M.s Tagebuch und in Akten. Die Frau, die von Psychiatern als «triebhaft» oder «psychopathisch» beurteilt wurde, liess sich für die Artikel noch einmal psychiatrisch begutachten. Das Resultat: Sie wurde als völlig normal eingestuft.

Die Mehrheit der Zwangssterilisationen und Kastrationen in der Schweiz betraf Frauen. Die Operationen wurden ausser in der Waadt gesetzlos durchgeführt, doch informelle Absprachen und Richtlinien zwischen Medizinern, Juristen und Behörden garantierten den Verantwortlichen Straflosigkeit.

Ab 1981 war dies nicht mehr möglich. Unter dem Druck der Öffentlichkeit, den die Presseartikel ausgelöst hatten, änderte die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften ihre Richtlinien. Tamara M. brachte dies nichts mehr: Sie werde es wohl nie überwinden können, dass sie keine Kinder mehr haben könne: «I hüüle mengmol ganzi Nächt, wenn i dra denke.» Wie es ihr heute geht, ob und wo sie lebt, ist nicht bekannt.

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nzz.ch/…ben-von-60-000-unschuldigen-zerstoerten-ld.1482890
Erich Foltyn
die können alle jederzeit einen Rappel kriegen und Menschenmassen schikanieren und massakrieren.
Tina 13
Wird man diese auch den Ungeimpften antun? 😭😭😭
Tina 13
😭😭😭