Kinderkrippen als Frucht der Wirtschafts-Lobby

(gloria.tv/ KNA) Kinderärzte haben den massiven Ausbau von Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren kritisiert. Der Leitende Arzt des Sozialpediatrischen Zentrums Bielefeld-Bethel, Rainer Böhm, warnte in einem Beitrag für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» (Mittwoch) vor hohen Risiken für die langfristige seelische und körperliche Gesundheit der unter Dreijährigen durch ganztägige Fremdbetreuung.

Dabei verwies er auf Langzeitstudien in den USA und jüngste Untersuchungen in den Niederlanden und Österreich über erhöhte Stressbelastungen. Böhm mahnte, dass Deutschland aus den Erfahrungen im Ausland lernen sollte.

Der Mediziner beruft sich bei seiner Kritik auf die sogenannte «NICHD»-Studie des Nationalen Instituts für Kindergesundheit und -entwicklung in den USA, bei der Wissenschaftler das Verhalten von
1.300 Kindern von ihrem ersten Lebensmonat bis zum 15. Lebensjahr analysierten. Demnach wirkt sich die Krippenbetreuung negativ auf die «sozioemotionale Kompetenz» der Kinder aus. Je mehr Zeit die Kinder kumulativ in Einrichtungen verbracht hätten desto stärker zeigten sie später «dissoziales Verhalten» wie Streiten, Kämpfen, Sachbeschädigungen. Die Verhaltensauffälligkeiten auch in späteren Jahren seien «weitgehend unabhängig von der Qualität der Betreuung».

Wissenschaftliche Analysen hätten ferner durch die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol eine erhöhte Stressbelastung bei vielen Krippenkindern nachgewiesen. Nach den Befunden seien «eine große Zahl von Krippenkindern durch die frühe und langandauernde Trennung von ihren Eltern und die ungenügende Bewältigung der Gruppensituation emotional massiv überfordert». Auch dies gelte unabhängig von der Qualität der Krippenbetreuung.

Der Befund sei in dieser frühen Entwicklungsphase besonders problematisch, weil chronische Stressbelastung die Entwicklung des Gehirns beeinträchtige. Der Dauerstress erhöhe langfristig die Risiken an psychischen und physischen Krankheiten wie Depression oder Fettsucht zu erkranken.

Als Empfehlung eines deutschen Kinderärztekongresses zur NICHD-Studie nannte Böhm: Eine Gruppenbetreuung von Kindern unter zwei Jahren sei zu vermeiden. Zwischen dem zweiten und dem dritten Geburtstag sollte das Kind maximal halbtägig bis zu zwanzig Stunden in der Woche in die Betreuung. Ab dem dritten Geburtstag sei dann je nach individueller Bereitschaft ganztägige Betreuung möglich. Ferner drängen die Ärzte auf eine «konsequente Orientierung an hohen Qualitätsstandards jeglicher außerfamiliärer Betreuung».

Die deutsche «Krippenoffensive» geht nach Überzeugung des Wissenschaftlers «wesentlich auf die massive politische und publizistische Lobbyarbeit von Wirtschaftsverbänden zurück, die angesichts der demografischen Entwicklung versuchen, Arbeitskraftreserven auch unter jungen Eltern zu mobilisieren».