Nicky41
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Die “Scivias”-Miniaturen

Der Rupertsberger Scivias-Kodex

Zur Bekanntheit des Liber „Scivias“ (Wisse die Wege), der ersten Visionsschrift Hildegards von Bingen, haben die 35 Miniaturen in erheblichem Maße beigetragen. Diese Bilder befinden sich in der sogenannten Illuminierten Prachthandschrift und sind inzwischen vielleicht populärer als der geschriebene Text des Werkes selbst. Über das Entstehen und das Wesen der Miniaturen gibt es noch keine endgültigen Forschungsergebnisse. Allgemein anerkannt ist die Datierungszeit der Handschrift zu Lebzeiten Hildegards, also vor 1179. Auch das Kloster Rupertsberg als Entstehungsort erscheint unstrittig. Obwohl die Originalhandschrift des Scivias-Kodex seit 1945 verschollen ist – aus Sicherheitsgründen wurde er kurz vor Kriegsende aus der Nassauischen Landesbibliothek Wiesbaden nach Dresden verlagert – verfügen wir dank der akribischen Arbeit unserer Mitschwestern, die die Handschrift in den Jahren 1927-1933 aufs Getreuste handkopiert haben, über ein wertvolles Faksimile. Naturgemäß ging bei dem feinen Nachmalen der Bilder etwas von der Lebendigkeit und Ursprünglichkeit verloren. Dennoch gibt dieses Faksimile einen genauen Eindruck des Originals wieder, besonders was die Vielfalt der Farben betrifft.

"Scivias" - Kodex

Tafel 1 : Die Seherin


"Da legte ich Hand ans Schreiben."

Die erste Miniatur des Rupertsberger „Scivias“-Kodexes stellt Hildegard dar, während sie mit feurigen Flammen überströmt in ihrer Schreibstube arbeitet und der vertraute Mönch und jahrzehntelang treue Helfer, Volmar, ihr beisteht. Dieses sogenannte Autorenbild erfüllt verschiedene Funktionen.
Der illuminierte Scivias-Kodex fängt mit diesem Bild an. Es ist also das Eingangstor zum ganzen Werk.
Diese Miniatur dient außerdem als Kommunikationsinstrument zwischen dem Text und dem Leser und schafft damit einen ersten Zugang zum Haupttext des Scivias.
Weil die Person Hildegards selbst dem Betrachter direkt vor Augen geführt wird, verbindet das Bild die Verfasserin mit dem Empfänger des Buches.
Das Gebäude, die Gegenstände wie Griffel, Wachstäfelchen, und der goldfarbige Hintergrund bilden den Rahmen, in dem das Werk entstanden ist. In dieser Funktion vermittelt das Bild zwischen Leben und Werk Hildegards.

Die Miniatur illustriert die Vorrede des Scivias. Diese ist eine großartige Vision, in der Gott Hildegard als seine Prophetin beruft. Die Protestificatio, d.h. „öffentliche Bezeugung“, wie die Vorrede auf Latein heißt, ist durchdrungen von der Atmosphäre der alttestamentlichen Prophetenberufungen des Ezechiel, Daniel und Jesaja. Hildegard übertrifft aber sogar noch diese alttestamentlichen Gestalten, die einst viele Geheimnisse Gottes erschauten. Sie empfängt nämlich die Gabe des kirchlichen Prophetentums zur geistlichen Auslegung des Wortes Gottes und rückt damit ganz in die Nähe der Größe des Johannes, der als Lieblingsjünger Jesu und Verfasser des vierten Evangeliums sowie der Apokalypse gilt.

Das Ereignis im Jahre 1141, das Hildegard in ihrem 43. Lebensjahr trifft und das sie in dieser Vorrede wiedergibt, hat einen ausdrücklich pfingstlichen Charakter. Die Feuerflammen auf dem Bild drücken aus, was Hildegard beschreibt: „Ein feuriges Licht kam mit Blitzesleuchten vom offenen Himmel hernieder. Es durchströmte mein Gehirn und durchglühte mir Herz und Brust gleich einer Flamme.“ Das lebendige Licht erleuchtet den gebrechlichen und zugleich auserwählten Menschen Hildegard. Eine Stimme aus dem Himmel gibt ihr den Auftrag, dem Volk die Wege Gottes zu zeigen, die sowohl die Wege Gottes zu den Menschen, als auch die Wege der Menschen zu Gott sind. „Und ich sagte und schrieb dies nicht nach der Erfindung meines Herzens oder irgendeines Menschen, sondern wie ich es in Himmelskundgebungen sah, hörte und empfing durch die verborgenen Geheimnisse Gottes.“

Sr. Maura Zátonyi OSB
Ad Extirpanda
Wo ist das Original? Ist es den Russen in die Hände gefallen?
Heilwasser