Guntherus de Thuringia
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[LJ 8] Das Leben Jesu nach den vier Evangelisten

6. Das Bedenken des hl. Joseph und der Befehl des Himmels
(Matth. 1, 18-25)

Mit der Geburt Christi aber verhielt es sich also: Da seine Mutter Maria mit Joseph verlobt war, fand es sich, bevor sie zusammenwohnten, dass sie vom Heiligen Geiste empfangen hatte. Joseph aber, ihr Mann, gedachte – weil er gerecht war und sie nicht ins Gerede bringen wollte – sie heimlich zu entlassen.1)

Während er aber mit diesem Gedanken umging, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traume und sprach: „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, dein Weib, zu dir zu nehmen; denn was in ihr erzeugt worden, ist vom Heiligen Geiste. Sie wird aber einen Sohn gebären, den sollst du Jesus nennen; denn eben er wird sein Volk von dessen Sünden erlösen.“ Dieses alles ist geschehen, damit erfüllt würde, was von dem Herrn durch den Propheten gesagt worden, der da spricht: „Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und man wird ihn Emmanuel nennen, das heißt: Gott mit uns.“

Nachdem nun Joseph vom Schlafe erwacht war, tat er, wie ihm der Engel des Herrn befohlen, und nahm sein Weib zu sich. Er erkannte sie nicht, bis sie ihren Sohn gebar, den Erstgeborenen; und er gab ihm den Namen Jesus.2)

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1) Der heilige Joseph gewahrte den gesegneten Zustand seiner Braut, wusste jedoch nicht, dass sie durch ein Wunder der göttlichen Allmacht empfangen hatte. Deshalb geriet er in die größte Verwirrung; denn einerseits konnte er an einer Tatsache nicht zweifeln, die ihm durch das Zeugnis seiner Sinne verbürgt wurde, anderseits war er von der Heiligkeit seiner Braut so fest überzeugt, dass es ihm nicht möglich war, sie eines Fehltrittes zu zeihen. Deshalb trug er sich mit dem Gedanken, seine Braut zu entlassen, und zwar heimlich, um ihren guten Namen möglichst sicher zu stellen.

2) Von dem Gottmenschen Jesus Christus heißt es Ps. 109, 1: „Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde als Schemel für deine Füße lege.“ Mit dem Worte „bis“ soll aber offenbar nicht gesagt werden, nach Niederwerfung aller Feinde werde er nicht mehr zur Rechten des himmlischen Vaters thronen. So will auch der Evangelist mit den Worten „bis sie ihren Sohn gebar“, keineswegs leugnen, dass die gebenedeite Gottesmutter nach der Geburt des göttlichen Kindes Jungfrau geblieben ist. Auch der Ausdruck „den Erstgebornen“ steht dem nicht entgegen, denn auch der Eingeborne ist der Erstgeborne, und bei den Juden wurde er besonders wegen der Einlösung mit Vorliebe so genannt. Die heilige Schrift widerstreitet mithin keineswegs dem beständigen Glauben der katholischen Kirche, dass Maria allzeit eine reine Jungfrau gewesen und geblieben ist, Jungfrau vor der Geburt, in der Geburt und nach der Geburt ihres göttlichen Sohnes.