Neun Überlegungen zu Traditionis Custodes. Von Boniface

Viele Leute, die scharfsinniger sind als ich, haben Traditionis Custodes bereits ausführlich kommentiert, daher werde ich versuchen, diese Argumente nicht zu wiederholen. Hier sind meine neun Überlegungen zum neuen Motu Proprio.
1. Erstens, über den Gegensatz zwischen Franziskus und Benedikt. Einige sagen, TC sei keine Zurückweisung von Benedikt XVI.'s Summorum Pontificum. Sie führen das Argument an, dass jene, die das sagen, unnötig parteiisch seien und dramatisieren würden. Haben diese Leute diese Dokumente überhaupt gelesen? Wir müssen damit beginnen, zu erkennen, dass Summorum Pontificum die traditionelle lateinische Messe nicht "legalisiert" oder "erlaubt" oder "liberalisiert" hat. Es hat die lateinische Messe nicht durch ein positives Dekret verfügbar gemacht; vielmehr hat es das Prinzip dargelegt, dass die lateinische Messe niemals abgeschafft worden sein kann und daher in der Konsequenz immer erlaubt war (und ist). Traditionis Custodes hingegen lehnt dieses Prinzip völlig ab. Es geht diesem Dokument nicht nur darum, etwas zu unterdrücken, was Benedikt XVI. erlaubt hat; es geht darum, dass es, indem es sich anmaßt, die traditionelle Liturgie durch päpstliches Diktat zu beseitigen, dem in Summorum Pontificum erläuterten Prinzip widerspricht, ohne eine Erklärung zu geben, warum oder wie das möglich ist. Aber diese Vorgehensweise ist heutzutage gang und gäbe. Das "moderne" Lehramt schafft Kontinuität, indem es sie lediglich behauptet. Wir sollen akzeptieren, dass Kontinuität und Harmonie existieren, nur weil man uns sagt, dass es so ist.
2. Franziskus' Motu proprio wurde aus der Sorge heraus veröffentlicht, dass die traditionellen Gemeinschaften einen spaltenden Geist pflegen, weil sie glauben, sie allein seien "die wahre Kirche." Was ist damit überhaupt gemeint? Bezieht sich das auf Traditionalisten, die wirklich denken, dass die Kirche, der Franziskus vorsteht, eine falsche Kirche ist? Dass Franziskus ein falscher Papst sei? Oder bedeutet das vielleicht nur den Glauben, dass die traditionelle lateinische Messe das authentische Herz unseres Glaubens widerspiegelt? Schwer zu sagen. Traditionis Custodes geht nicht näher darauf ein, worin die falschen Prämissen, die von diesen spalterischen Traditionalisten behauptet werden, eigentlich bestehen. Es ist unmöglich zu bestimmen, wann und ob jemand sich schuldig macht, zu glauben, er sei "die wahre Kirche", da das Dokument keine Erklärung für dieses neue und gefährliche Schisma liefert, das dennoch so schwerwiegend ist, dass es die Unterdrückung eines ganzen Ritus rechtfertigt. Es ist dazu gedacht, einen ganzen Teil der Kirche in Verdacht zu bringen.
Der springende Punkt ist folgender: Es wird eine subtile Veränderung des Wortes "Schisma" vorgenommen, indem es von einem kanonischen Status in eine Haltung verwandelt wird. Es ist sehr schwierig, jemandem den kanonischen Zustand des Schismas anzuhängen; es ist extrem einfach, jemanden zu beschuldigen, eine "schismatische Haltung" zu haben. Ich denke, die meisten Verwendungen des Wortes "Schisma", die ich heutzutage in den sozialen Medien sehe, stehen eher im Zusammenhang mit einer Haltung als mit einem objektiv existierenden kanonischen Zustand. Im Grunde ist "schismatische Haltung" zum Schlagwort geworden, um jeden zu bezeichnen, der online fiese Dinge über das aktuelle Kirchenregime postet. Seine Definition ist so weit gefasst, dass es nichts bedeutet; es wird so benutzt, wie Wokies das Wort "Rassismus" benutzen.
Auch die Tatsache, dass der Heilige Vater Strafmaßnahmen gegen eine Haltung ergreift, ist beunruhigend. Das ist keine Spekulation. Franziskus sagt in seinem Begleitschreiben ausdrücklich, dass sein Edikt durch "Worte und Haltungen" ausgelöst wird.
Was ein wirkliches Schisma angeht, so ist die Zahl der traditionalistischen Gruppen oder Pfarreien, die während des Pontifikats von Franziskus ins Schisma gegangen sind, gleich Null.
3. Aber wenn es traditionelle Katholiken gibt, die buchstäblich glauben, dass sie und nur sie allein die "wahre Kirche" sind, müssen sie weltweit nur ein paar tausend sein. Offenbar sollen wir glauben, dass dieser winzige Splitter einer Bevölkerungsgruppe eine existenzielle Bedrohung für die Einheit einer Gemeinschaft von einer Milliarde Gläubigen darstellt?
Aber keine Angst! Als Abhilfe werden wir allen Katholiken, welche die Lateinische Messe lieben, in eine oder zwei Pfarreien in einer Diözese treiben, ihnen drakonische Beschränkungen auferlegen, ihnen praktisch verbieten, in neuen Pfarreien oder sogar mit neuen Priestern zu zelebrieren, und dann werden wir sie in einem Zeitalter der sozialen Medien dahinschmoren lassen. Das klingt nach einem erfolgreichen Plan für die Einheit. Die Härte dieses Diktats wird nur noch von seiner schieren Schwachsinnigkeit übertroffen.
4. Selbst wenn es eine reale Bedrohung durch ein Schisma gäbe, ist es außerordentlich bizarr, einen legitimen Ritus wegen solcher Bedenken zu unterdrücken. Kanonisch gesprochen sind es Personen, nicht Riten, die in solchen Fällen Gegenstand der Gesetzgebung sind. Betrachten Sie dieses Stückchen Geschichte:
Während des Pontifikats von Pius IX. lag der chaldäische Patriarch Joseph Audo häufig im Streit mit dem Vatikan. Am bemerkenswertesten waren seine Bemühungen, die syro-malabarischen Katholiken Indiens unter seine Jurisdiktion zu bringen, indem er den Bischof von Aqra, Mar Elias Mellus, 1874 als seinen Gesandten nach Indien schickte, um dies zu erreichen. Mar Elias wurde tatsächlich exkommuniziert, weil er dort ein Schisma geschürt hatte. Dies hielt Joseph Audo nicht davon ab, in den folgenden Jahren weiterhin verschiedene Bischöfe ohne vorherige Rücksprache mit Rom zu weihen und so eine rivalisierende Hierarchie in Indien zu etablieren. Im September 1876 drohte Papst Pius IX. schließlich damit, den Patriarchen und die von ihm geweihten Bischöfe zu exkommunizieren, wenn sie ungehorsam blieben. Patriarch Audo unterwarf sich schließlich dem Papst, der ihn daraufhin für sein Entgegenkommen lobte und alle seine Bischofsernennungen außerhalb Indiens anerkannte. Auch Bischof Mellus versöhnte sich mit dem Heiligen Stuhl und wurde daraufhin Bischof von Mardin.
Diese Geschichte ist bemerkenswert, weil die Förderung des chaldäischen Ritus in Indien direkt mit der Errichtung einer rivalisierenden und schismatischen Hierarchie in einer eklatanten Usurpation der kirchlichen Jurisdiktion verbunden war. Dennoch machte Pius IX. keinen Versuch, den Gebrauch des chaldäischen Ritus einzuschränken, trotz der ernsthaften Gefahr eines Schismas. Gegen die Personen, die das Schisma schürten, wurden kanonische Strafen verhängt. Ein Ritus selbst ist nicht der richtige Gegenstand für diese Art von kanonischen Strafen. Ich hoffe, dass mehr Kommentatoren und Kanonisten anfangen, darauf hinzuweisen, wie bizarr die Begründung von Traditionis Custodes in dieser Hinsicht ist (Dank an meinen Freund Konstantin, der mich auf diese Geschichte aufmerksam gemacht hat).
5. Im Begleitschreiben von Franziskus heißt es: "Die meisten Menschen verstehen die Motive, die Johannes Paul II. und Benedikt XVI. dazu veranlasst haben, die Verwendung des Römischen Messbuchs, das von Pius V. promulgiert und von Johannes XXIII. 1962 herausgegeben wurde, für das eucharistische Opfer zu erlauben. Die durch das Indult der Kongregation für den Gottesdienst 1984 gewährte und vom heiligen Johannes Paul II. im Motu Proprio Ecclesia Dei 1988 bestätigte Erlaubnis war vor allem durch den Wunsch motiviert, die Heilung des Schismas mit der Bewegung von Mons. Lefebvre zu erreichen."
Dies ist nachweislich falsch. Das Indult wurde nicht gewährt, um ein Schisma mit der Piusbruderschaft zu heilen. Vielmehr wurde das Indult gewährt, um eine Heimat für die Gläubigen zu schaffen, die die lateinische Messe liebten, aber dennoch der Piusbruderschaft nicht ins formale Schisma folgen wollten. Das heißt, das Ziel der Gesetzgebung von Johannes Paul II. waren die Gläubigen, die sich nicht der Piusbruderschaft anschließen wollten; aber Papst Franziskus sagt, das Ziel der Gesetzgebung von Johannes Paul war die Piusbruderschaft. Das ist ein kolossaler Irrtum. Rorate Caeli hat ein ausgezeichnetes Stück, das die Art und Weise dokumentiert, wie Johannes Pauls Absicht von Franziskus falsch charakterisiert wird.
6. Obwohl das Motu proprio darauf besteht, dass die Missbräuche im Novus Ordo beseitigt werden, wissen wir alle, dass das nie geschehen wird. Wenn Franziskus wirklich besorgt ist über Katholiken, die von der kirchlichen Lehre abweichen, dann ist Traditionis Custodes so, als würde er den Traditionalisten den Splitter aus dem Auge ziehen, ohne die Planke im Auge des Novus Ordo zu entfernen. Umfragen zeigen immer wieder, dass 89% der Katholiken die päpstliche Autorität ablehnen, über die Unmoral der Empfängnisverhütung zu lehren; 51% lehnen die päpstliche Lehre zur Abtreibung ab. Und 69% der Katholiken glauben nicht an die Transsubstantiation (Quelle: USA). Ist der Heilige Vater hierüber beunruhigt? Wird er entschieden gegen diese Menschen vorgehen?
Nein, natürlich nicht. Die Doppelmoral entkräftet nicht das Gewicht von Traditionis Custodes (was immer das auch sein mag), aber er zerstört jeden Anschein guten Willens von Seiten des Heiligen Vaters, und er zerstört jede Wahrscheinlichkeit, dass die Gläubigen dies mit Fügsamkeit aufnehmen werden. Angesichts solch dreister Ungerechtigkeit ist die Aussicht, dass traditionelle Katholiken sich einfach umdrehen und das akzeptieren, lächerlich. Das wird nur noch mehr Ärger verursachen. Und das wäre zu 100% vermeidbar gewesen. Was für eine Verschwendung. Sprechen Sie jetzt, wenn Sie wollen, von unnötigem Gezänk.
7. Was die selbsthassenden Traditionalisten angeht, die sagen "Wir haben darum gebittet, und wir bekommen, was wir verdient haben", und "die Einschätzung des Heiligen Vaters über den Traditionalismus muss richtig sein", kann ich mir nicht vorstellen, welche Art von mentaler Folter ihr euch antun müsst, um diese Quadratur des Kreises zu bewerkstelligen. Ich verstehe, dass traditionelle Katholiken toxisch sein können; ich habe erst kürzlich darüber geklagt. Aber wenn Sie denken, dass die schlechte Einstellung einiger weniger Online-Traditen die globale Unterdrückung eines ganzen Ritus rechtfertigt - und nicht nur irgendeines Ritus, sondern des herausragenden historischen Ritus der lateinischen Christenheit - dann sind Sie unendlich viel unausgeglichener als die Boogey-Man-Traditionalisten, über die Sie sich aufregen. Das ist ungefähr so, als würde man eine Hand amputieren, um den Fingernagel zu schneiden.
8. Eine der lächerlichsten Passagen in dem Begleitschreiben ist die, in der Franziskus sagt: "Wer mit Hingabe nach früheren Formen der Liturgie feiern möchte, kann im reformierten Römischen Messbuch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil alle Elemente des Römischen Ritus finden, insbesondere den Römischen Kanon, der eines seiner charakteristischsten Elemente darstellt."
Dies ist eine erschreckend reduktionistische Sicht der Liturgie. Es gibt eine gewisse Haltung unter konservativen Katholiken, dass das einzige, was in der Liturgie zählt, eine gültige Eucharistie ist. "Es ist immer noch Jesus!" würden sie vorhersehbar auch dann noch intonieren, wenn Luftballons aufsteigen und der Altarraum sich mit Gitarrenklängen füllt. Dies repräsentiert eine radikal minimalistische Sicht der Liturgie, welche die Messe auf ihre nackten Bestandteile reduziert und sich freut, dass wir wenigstens noch das sine qua non der Liturgie haben. Papst Franziskus beweist mit diesem Zitat eine ähnliche Sichtweise: Die gesamte liturgische Tradition des Westens wird auf den Römischen Kanon reduziert. "Worüber beschwert ihr euch? Ihr habt doch den Römischen Kanon." Wenn das die Auffassung des Papstes von Kontinuität ist, dann ist buchstäblich nichts in der Kirche vor seiner Neuerung sicher. Ich hoffe, dass mehr Menschen erkennen, was für eine entsetzlich reduktionistische Hermeneutik das ist. Es ist, als ob ich meine Kinder, nachdem ich sie jahrelang mit gesunden, ausgewogenen Mahlzeiten gefüttert habe, plötzlich vor die Tür setze und ihnen sage, sie sollen Insekten essen. Und wenn sie sich beschweren, dass sie mit Insekten nicht überleben können, sage ich abschätzig: “Das sind doch auch Proteine."
9. "Was sollen wir tun?" Das wollen wirklich alle wissen. Darauf zucke ich mit den Schultern. Ich weiß es nicht. Aber ich werde zwei Dinge sagen:
(1) Traditionelle Katholiken haben eine Tendenz zum Skrupulantismus. Wir machen uns viel zu viele Gedanken über Regeln und Kleinigkeiten. Die gegenwärtige Situation verschlimmert die Ängste noch. Diese Entwicklung hat viele von uns in extrem herausfordernde Dilemmas gebracht, in denen kein Katholik jemals sein sollte. Kein Katholik sollte den Papst gegen die Liturgie, den Gehorsam gegen den Gottesdienst, die Treue zur Tradition gegen das lebendige Lehramt ausspielen müssen. In diesen Dilemmas können wir es uns nicht leisten, übermäßig skrupulös zu sein. Ich spreche zu Laien, aber auch zu Bischöfen und Priestern. Wir sind im Westen viel zu streitlustig. Bei all dem Scheiß, der in der Welt und in der Kirche vor sich geht, bei dem Zerfall der Zivilisation und dem totalen Chaos in der Kirche, bei all der Verwirrung und Fehlinformation und den Lügen und Doppelmoral, die täglich von der Hierarchie ausgekotzt werden, glauben Sie da wirklich, dass Gott die Verantwortung für die Bestimmung des genauen kanonischen Status einer unabhängigen Kapelle auf Ihre Schulter legt? Tun Sie einfach, was Sie tun müssen, und kümmern Sie sich nicht zu sehr um das Kleingedruckte.
Außerdem habe ich "Scheiß" gesagt, nur um die skrupulösen Leute zu irritieren, die angesichts dieses Beitrages über die gegenwärtige Krise denken werden, dass die beste Verwendung ihrer Energie darin besteht, sich über das Wort “Scheiße" zu beschweren.
(2) So schrecklich diese Situation auch ist, ich versuche immer, mich daran zu erinnern, dass die Messe nicht mein ganzer Glaube ist. Sie ist ein wesentlicher Teil davon, wie ich meinen Glauben lebe, aber mein Glaube ist größer als die Messe. Ich nenne diesen Punkt, weil Leute mir eine Nachricht schicken und sagen: "Das schadet meinem Glauben." Ich weiß nicht, ob sie das wirklich meinen, in dem Sinne, dass sie dadurch weniger an Gott glauben; manchmal denke ich, sie meinen nur: "Das macht es für mich schwierig, meinen Glauben zu leben." Die lateinische Messe ist ein absoluter Schatz. Aber Gott schuldet keinem diese Messe. Er gibt sie, und er kann sie wegnehmen. Wenn der Entzug des Zugangs zur lateinischen Messe tatsächlich dazu führt, dass man den Glauben verliert, was hätten Sie dann in all den Jahrhunderten in Japan getan, als die Katholiken dort keine Messe hatten? Oder im elisabethanischen England? Hätten Sie einfach den Glauben verloren? Viele Wüstenväter sind überhaupt nicht zur Messe gegangen, auch nicht die Nonnen im Mittelalter, auch nicht viele der Eremiten.
Gott sitzt immer noch auf dem Thron. Jesus ist immer noch von den Toten auferstanden. Ich bin immer noch durch sein Blut erlöst und durch das heilige Wasser der Taufe in seinen Leib eingegliedert. Hat sich irgendetwas davon geändert? Nein. Nichts davon hat sich geändert, und deshalb ist mein Glaube unverändert. Ich will die Bedeutung der Messe in keiner Weise schmälern; aber wenn Ihr Glaube an Gott tatsächlich von einem gewissen Grad des Zugangs zur traditionellen Messe abhängt, wo wird Ihr Glaube dann sein, wenn es in kommenden Zeiten noch schwieriger wird? Ich will Sie nicht beleidigen. Vielmehr fordere ich Sie heraus, zu den Grundlagen zurückzukehren, zu den unveränderlichen Wahrheiten, die kein Prälat antasten kann. Haben Sie Vertrauen in Gott. Ich spreche nicht von "Habt den Glauben, dass die traditionelle lateinische Messe triumphieren wird!" oder "Habt den Glauben, dass irgendein zukünftiger Papst das alles umkehren wird." Ich meine: Habt den Glauben, dass Gott mit uns ist, dass das Blut Christi uns von der Sünde befreit hat und dass wir in ihm ein Leben in Gnade und Heiligkeit führen können - auch wenn diese Störungen bis zum Ende der Welt nicht behoben würden.
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Bild: © Joseph Shaw, CC BY-NC-SA,